In Köln beleuchtet eine Ausstellung jüdische Präsenz in Deutschland vom römischen Reich bis zur Gegenwart – und stellt rituelle Objekte sowie Alltagsgegenstände in einen spannungsreichen Kontrast zu zeitgenössischer Kunst

Von Udo Badelt

Schummriges Dämmerlicht hat immer etwas Mystisches. Der Text in der Vitrine kündet allerdings von etwas sehr Weltlichem, von pragmatischer Politik, und die Beleuchtung ist nur deshalb gedimmt, um das unschätzbar wertvolle Papier zu schonen. Da liegt es also, das berühmte Dekret Kaiser Konstantins aus dem Jahr 321 in einer Abschrift aus dem 6. Jahrhundert, Grundlage und Anlass für das aktuelle Jubiläumsjahr „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“. Oder besser: Da lag es. Für wenige Wochen, bis Mitte Oktober, war es in Köln ausgestellt, im Kolumba, dem Kunstmuseum des Erzbistums. Ausgeliehen von der Biblioteca Apostolica Vaticana, der vatikanischen Bibliothek in Rom, wohin es inzwischen auch wieder zurückgekehrt ist. Denn länger darf es nicht dem Licht ausgesetzt sein, auch wenn dieses mehr einem Funzeln gleicht. Die Ausstellung allerdings, als deren zentrales Exponat das Dekret zeitweise fungiert hat, läuft noch weiter bis zum 15. August 2022.

Das zentrale Exponat ist ein Dekret Kaiser Konstantins von 321

„In die Weite“ heißt sie. Und ist doch auch das Gegenteil davon, nämlich eine Annäherung an die Jahrhunderte jüdischen Lebens nördlich der Alpen. Ein Leben, das nicht mit diesem Dekret begann, aber das mit ihm erstmals geschichtlich fassbar wird. Gesiedelt haben Juden natürlich schon vor 321 auf dem Gebiet des späteren Deutschland, sie sind wahrscheinlich mit den Heeren Roms ins Rheinland gekommen. Im Dekret gestattet Konstantin den Bürgern von CCAA (Colonia Claudia Ara Agrippinensium, dem späteren Köln) und damit zugleich allen anderen Städten im Reich, Juden in den Stadtrat zu berufen. Daraus lässt sich manches schließen. Zum Beispiel, dass es offenbar einen Mangel an geeigneten, also wohlhabenden Kandidaten gab, so dass man auf Juden „zurückgreifen“ musste. Im Reich herrschte Wirtschaftskrise, Germaneneinfälle häuften sich. Juden waren, auch dies lässt sich aus dem Dekret herauslesen, damals alles andere als diskriminiert und ausgegrenzt, sie besaßen Ansehen, sozialen Rang, Land. Sonst wären sie nicht als Räte infrage gekommen.

Ein eigenartiges Gefühl, sich über dieses Stück Papier zu beugen, seine Präsenz zu spüren, die sorgfältig gemalten, am Anfang eines jeden Absatzes auch nach so langer Zeit noch leuchtend roten Lettern zu studieren. Der oströmische Kaiser Theodosius II. ließ um 430 alle Gesetze, die seine Vorgänger seit 312 erlassen hatten, im sogenannten Codex Theodosianus sammeln. Aber Buchdruck wurde erst tausend Jahre später erfunden. Das Mittelalter haben nur diejenigen Texte überlebt, die immer und immer wieder abgeschrieben wurden. Das aus dem Vatikan ausgeliehene Exemplar ist die älteste erhaltene Abschrift. In der vierten Zeile finden auch Nicht-Lateiner die entscheidende Folge von Buchstaben: „iudaeo“. Die erste überlieferte Erwähnung von Juden in Deutschland.
Zwei Jahrtausende. Die Laubhütte (Bild l.) aus Rottenburg am Neckar wurde bis 2000 als Geflügelstall genutzt, im Hintergrund zwei Werke von Michael Buthe (1944–1994). Bild rechts: Der Titusbogen in Rom zeigt die letzte bekannte Abbildung der Menora (siebenarmiger Leuchter) als Kriegsbeute. Dieser Gipsabguss entstand um 1900, eine Leihgabe der Universität Leipzig.
Zwei Jahrtausende. Die Laubhütte (Bild l.) aus Rottenburg am Neckar wurde bis 2000 als Geflügelstall genutzt, im Hintergrund zwei Werke von Michael Buthe (1944–1994). Bild rechts: Der Titusbogen in Rom zeigt die letzte bekannte Abbildung der Menora (siebenarmiger Leuchter) als Kriegsbeute. Dieser Gipsabguss entstand um 1900, eine Leihgabe der Universität Leipzig.
Das Manuskript nach Köln zu holen war ein Coup, aber auch ohne dieses Exponat ist die Ausstellung sehenswert. Allerdings sind die Objekte nicht immer alle gleichzeitig zu sehen. Die Schau will atmen, ein lebendiger Organismus. Der Amsterdam Machsor zum Beispiel, das zweitwichtigste Exponat, wird bis 31. Januar und dann wieder ab 5. Juli gezeigt. Ein Machsor ist ein Buch, eine Sammlung von Gebeten und liturgischen Versen für jüdische Feiertage. Dieses hier, herrlich verziert, entstand wahrscheinlich trotz des Namens in den 1250er Jahren in Nordfrankreich und wurde von einem Kölner Stifter in Auftrag gegeben. Es gelangte später in die Niederlande und ist heute im Besitz des Amsterdam Joods Historisch Museums und des künftigen Kölner Jüdischen Museums Miqua, das 2024 eröffnen soll.

Der Raum direkt daneben ermöglicht Einblicke in jüdisches Alltags- und Ritualleben aus drei Jahrhunderten, versammelt in einem Dutzend Schachteln: Die Genisa aus dem pfälzischen Niederzissen. Eine Genisa bezeichnet im Hebräischen einen Ort, an dem Schriftstücke sakralen Inhalts und Kultgegenstände aufbewahrt werden, die benutzt, verschlissen und beschädigt sind. Sich nicht trennen zu können, Dinge erstmal im Keller oder Dachgeschoss aufzubewahren, das ist eine wohl auch Nicht-Juden vertraute Angewohnheit. Hier hat sie religiöse Dimension. Die Gebetsmäntel und Tora-Wickelbänder, aber auch Kinderzeichnungen („Ich will immer brav und fleißig sein“) oder profane Rechnungen und Verträge hat man 2009 auf dem Dachboden einer Synagoge gefunden, die 1938 verwüstet und später als Schmiede benutzt wurde. Seit 2012 ist das Haus in Niederzissen eine Erinnerungs- und Begegnungsstätte, und die Genisa wird dort ausgestellt – sofern sie nicht gerade nach Köln ausgeliehen ist.
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Ebenfalls 1938 stark beschädigt wurde ein barockes hölzernes Möbelstück aus Würzburg, das nur auf den ersten Blick aussieht wie ein Schrank. Tatsächlich ist es ein Tora-Schrein, SS-Männer haben die Türen eingetreten, die exakt in diesem Zustand belassen wurden. Weitere Exponate, die gerade wegen ihrer Unscheinbarkeit Eindruck hinterlassen: Walther Rathenau beantwortet in einem Personalbogen von 1922, fünf Monate vor seiner Ermordung, die Konfessionsfrage handschriftlich: „Diese Frage entspricht nicht der Verfassung“. Interessant auch eine Impfliste, auf der sich unter anderem hebräische Namen finden – 1874 wurde in Preußen eine Pockenimpfpflicht eingeführt. Arnold Schönberg verschaffte sich mit Hilfe von Karteikarten in einer Pappschachtel Überblick über die möglichen Zwölftonreihen für seine Oper „Moses und Aron“. Weit in die Gegenwart führt der Schriftzug „Jews“ im Treppenhaus, der zum Late-Night-Talk „Freitagnacht Jews“ mit Daniel Donskoy im WDR gehört.
Er emigrierte 1938. Andor Weininger (hier „Komposition mit vier Figuren in surrealer Landschaft“, 1946) war Mitglied des Bauhauses.
Er emigrierte 1938. Andor Weininger (hier „Komposition mit vier Figuren in surrealer Landschaft“, 1946) war Mitglied des Bauhauses.
Es sind nur Schlaglichter, aber zwischen ihnen spannt sich etwas auf, eben die titelgebende „Weite“ des Denkens. Vieles muss ungesagt und ungezeigt bleiben, aber jedes Objekt spinnt eine Geschichte, eine Erzählung potentiell im Kopf des Betrachters, der Betrachterin weiter. Wozu auch die abstrakte Gegenwartskunst beiträgt, die den Assoziationsraum dieser Ausstellung noch zusätzlich weitet. Etwa die „Hommage à Morton Feldmann“ von Paul Heimbach. Der Komponist Feldmann wuchs als Kind ukrainisch-jüdischer Einwanderer in Brooklyn auf. Als sein zweites Streichquartett in Darmstadt aufgeführt wurde, saß Heimbach im Publikum. Die minimalistische Musik hat er visuell mit zweimal 720 Permutationen einer Farbskala eingefangen, die sich über eine ganze Wand erstrecken. Oder die Farbexperimente von Ingo Meller (geb. 1955), die sich auch sozial lesen lassen: als ein Miteinander, das nicht Ineinander-Fließen bedeutet, sondern das Differenzen akzeptiert, sie nicht fürchtet.

Natürlich tragen auch die Räume des Kolumba-Museums selbst ihren Teil zur Wirkung bei. Der Schweizer Architekt Peter Zumthor, der in Berlin mit seinen Plänen für die Topographie des Terrors gescheitert ist, hat hier über den Trümmern der St. Kolumba-Kirche, die im Kern aufs 7. Jahrhundert zurückgeht, kreativ weitergebaut. Und eines der wenigen Gebäude geschaffen, in denen Beton das Denken weitet, statt es einzuengen. Ein Fenster erlaubt den Blick ins Köln des Jahres 2021, in die Glockengasse. Vor dem Krieg stand hier das Palais des Bankiers Oppenheim. Und die Kölner Synagoge.
Fotos: Lothar Schnepf/VG Bild-Kunst, Bonn 2021 (3)
Erschienen im Tagesspiegel am 11.12.2021