Lebendiges Wasser: Das rituelle jüdische Tauchbad Mikwe wird heute neu interpretiert
Von Dorothee Nolte
Devoiri, Deborah, hasst die Mikwe. Fünf Tage vor ihrer Hochzeit muss sie zum ersten Mal hin. Wird von einer Badefrau in ein Vorbereitungszimmer geführt, muss sich ausziehen und vollständig säubern, das heißt: Baden, Haare waschen, Nagellack ab, Kontaktlinsen raus, Schminke ab, jedes Pflästerchen muss weg. Nichts darf zwischen dich und das Mikwe-Wasser treten, hat sie gelernt, auch nicht das kleinste Krümelchen, das sich in irgendeiner Körperfalte verstecken könnte. Die neugierige Badefrau wird gleich ihr Haar nach Schuppen, ihre Haut nach Schorf untersuchen. Erst dann kann die junge Braut die sieben Treppenstufen in das kleine Becken der Mikwe hinabsteigen und eintauchen. Angeblich ist sie danach spirituell gereinigt – doch ihrem Gefühl nach ist sie gedemütigt.
Deborah Feldman schildert die Mikwe-Szenen in ihrem autobiografischen Buch „Unorthodox“ (deutsch 2016) als einen Akt, der mit Scham und der Herrschaft über den weiblichen Körper verbunden ist. Die Autorin ist in der ultraorthodoxen Sekte der Satmarer in New York aufgewachsen und aus der Welt dieser chassidischen Juden nach Berlin geflohen, ihr Buch wurde zum Bestseller und als Netflix-Serie verfilmt. Wer es gelesen oder den Film gesehen hat, wird die Mikwe als einen Ort der Repression in Erinnerung behalten. Die junge Ehefrau muss künftig jeden Monat hin: Sieben Tage nach Ende der Menstruationsblutung muss sie sich dort von ihrer „Unreinheit“ befreien, erst danach dürfen die Eheleute Geschlechtsverkehr haben, so will es die Halacha, das jüdische Gesetz. Was, fragt sich Devoiri, geht meine Menstruation die Badefrau an?
„Deborah Feldmans Erfahrung ist absolut gültig“, sagt Esther Kontarsky. Sie kann nachvollziehen, dass manche Frauen das Ritual rund um die Mikwe als übergriffig empfinden. Und doch betreut sie selbst Frauen, die in der Berliner Synagoge Oranienburger Straße die Mikwe besuchen, und kann dem jahrtausendealten Brauch viele positive Seiten abgewinnen.
Deborah Feldman schildert die Mikwe-Szenen in ihrem autobiografischen Buch „Unorthodox“ (deutsch 2016) als einen Akt, der mit Scham und der Herrschaft über den weiblichen Körper verbunden ist. Die Autorin ist in der ultraorthodoxen Sekte der Satmarer in New York aufgewachsen und aus der Welt dieser chassidischen Juden nach Berlin geflohen, ihr Buch wurde zum Bestseller und als Netflix-Serie verfilmt. Wer es gelesen oder den Film gesehen hat, wird die Mikwe als einen Ort der Repression in Erinnerung behalten. Die junge Ehefrau muss künftig jeden Monat hin: Sieben Tage nach Ende der Menstruationsblutung muss sie sich dort von ihrer „Unreinheit“ befreien, erst danach dürfen die Eheleute Geschlechtsverkehr haben, so will es die Halacha, das jüdische Gesetz. Was, fragt sich Devoiri, geht meine Menstruation die Badefrau an?
„Deborah Feldmans Erfahrung ist absolut gültig“, sagt Esther Kontarsky. Sie kann nachvollziehen, dass manche Frauen das Ritual rund um die Mikwe als übergriffig empfinden. Und doch betreut sie selbst Frauen, die in der Berliner Synagoge Oranienburger Straße die Mikwe besuchen, und kann dem jahrtausendealten Brauch viele positive Seiten abgewinnen.
„Wir wollen das Ritual von den negativen Erfahrungen befreien und es nicht einer bestimmten Gruppe überlassen zu definieren, wie es ausgeübt wird“, sagt Kontarsky. Für sie ist die Mikwe ein Ort der Diskretion, sie würde in ihrer Rolle als „Balanit“ (Badefrau) niemals neugierig in die Intimsphäre ihrer Besucherinnen eindringen. Das Eintauchen in die Mikwe könne vielmehr einen Moment des Innehaltens, der Besinnung, der Nähe zu Gott markieren, oder eines rituellen Übergangs von einem Zustand in einen anderen. Einen Moment, in dem ein Mensch mit einer Lebensphase oder Erfahrung abschließt und etwas Neues beginnt – auch zum Beispiel nach einer Fehlgeburt, einem Studienabschluss oder sogar nach einer Scheidung.
Das sieht auch Gesa Ederberg so, die als Gemeinderabbinerin für die Synagoge Oranienburger Straße zuständig ist. Traditionell, erklärt sie, hat der Besuch der Mikwe verschiedene Funktionen: nicht nur die der rituellen Reinigung vor der Hochzeit oder nach Menstruation und Entbindung. Auch Männer können die Mikwe vor Feiertagen wie Jom Kippur oder Pessach besuchen oder wenn sie mit Toten in Berührung gekommen sind; Toraschreiber besuchen die Mikwe, bevor sie den Namen Gottes schreiben. „Wer ins Judentum übertritt, besiegelt das mit einem Eintauchen in die Mikwe“, sagt die Rabbinerin. „Und schließlich kann man neues Geschirr in Mikwe-Wasser tauchen, um es koscher zu machen.“
Diese Nutzungen der Mikwe sind heute vor allem in orthodoxen Gemeinden verbreitet. Die konservative Masorti-Gemeinde, die Rabbinerin Ederberg vertritt, bietet die Nutzung der Mikwe dafür zwar an, es sind aber nur etwa acht Frauen, die sie monatlich nutzen, und vereinzelt kommen Männer für die anderen Zwecke. Ursprünglich gab es in der Synagoge Oranienburger Straße auch gar keine Mikwe, denn sie wurde 1866 für die liberal gestimmte Berliner Jüdische Gemeinde erbaut. „Erst mit der Renovierung des Gebäudes in den 1990er Jahren wurde eine Mikwe eingebaut“, sagt Rabbinerin Ederberg. Sie selbst pflegt das Ritual und findet, dass man es heutzutage durchaus feministisch neu interpretieren kann.
Das sieht auch Gesa Ederberg so, die als Gemeinderabbinerin für die Synagoge Oranienburger Straße zuständig ist. Traditionell, erklärt sie, hat der Besuch der Mikwe verschiedene Funktionen: nicht nur die der rituellen Reinigung vor der Hochzeit oder nach Menstruation und Entbindung. Auch Männer können die Mikwe vor Feiertagen wie Jom Kippur oder Pessach besuchen oder wenn sie mit Toten in Berührung gekommen sind; Toraschreiber besuchen die Mikwe, bevor sie den Namen Gottes schreiben. „Wer ins Judentum übertritt, besiegelt das mit einem Eintauchen in die Mikwe“, sagt die Rabbinerin. „Und schließlich kann man neues Geschirr in Mikwe-Wasser tauchen, um es koscher zu machen.“
Diese Nutzungen der Mikwe sind heute vor allem in orthodoxen Gemeinden verbreitet. Die konservative Masorti-Gemeinde, die Rabbinerin Ederberg vertritt, bietet die Nutzung der Mikwe dafür zwar an, es sind aber nur etwa acht Frauen, die sie monatlich nutzen, und vereinzelt kommen Männer für die anderen Zwecke. Ursprünglich gab es in der Synagoge Oranienburger Straße auch gar keine Mikwe, denn sie wurde 1866 für die liberal gestimmte Berliner Jüdische Gemeinde erbaut. „Erst mit der Renovierung des Gebäudes in den 1990er Jahren wurde eine Mikwe eingebaut“, sagt Rabbinerin Ederberg. Sie selbst pflegt das Ritual und findet, dass man es heutzutage durchaus feministisch neu interpretieren kann.
In den USA gibt es seit den 1970er Jahren entsprechende Bemühungen. „In Boston haben sie ein schönes Mikwe-Ritual für Gender Transitioning, also Geschlechtsumwandlung.“ Das Unter- und Wiederauftauchen hat für Gesa Ederberg eine feministische Symbolik, die der Neugeburt. Und auch den monatlichen Mikwe-Besuch müsse man nicht mit einer „Unreinheit“ der Frau in Verbindung bringen: „Ich mache mir bewusst: In mir hätte Leben entstehen können. Es ist aus vielen guten Gründen diesmal nicht entstanden, jetzt beginnt eine neue Phase.“
Die Mikwe, die stets mit „lebendigem Wasser“, also Grund-, Fluss-, See- oder Regenwasser gefüllt sein muss, gehört zur jüdischen Tradition ebenso wie die Synagoge oder die Tora. In früheren Zeiten war es normal, dass jede Gemeinde mindestens eine Mikwe hatte, in der Synagoge oder auch in Privathäusern, oft in den Kellern nahe am Grundwasser. Heute lassen sich an rund 400 Orten in Deutschland noch historische Mikwen („Mikwaot“ lautet der hebräische Plural) nachweisen. In Speyer etwa kann man eine Anlage aus der Zeit um 1120, die älteste ihrer Art in Mitteleuropa, besichtigen oder in Sondershausen in Thüringen eine Kellermikwe aus dem 13. Jahrhundert. Aber auch an der Krämerbrücke in Erfurt oder in Synagogen in Hagenow oder Wörlitz sind Tauchbecken erhalten. In Halberstadt kann Jutta Dick, Chefin des Berend Lehmann Museums, sogar drei Becken innerhalb weniger hundert Meter Entfernung zeigen, im Kantorhaus, im ehemaligen Mikwenhaus und, mit einem Geländer abgesichert und für Außenstehende kaum als solche erkennbar, an einem Parkplatz.
In Berlin gibt es keine historische Mikwe mehr. Moderne Mikwen betreiben neben der Masorti-Gemeinde auch die orthodoxe Gemeinde in der Joachimsthaler Straße, die Chabad Lubawitsch Gemeinde in Wilmersdorf und die Gemeinde Kahal Adass Jisroel im Wedding. Heutige Mikwen sind übrigens, versichert Esther Kontarsky, angenehm warm. Möglicherweise wurde das Wasser auch früher im Winter mittels heißer Steine erwärmt. Jedenfalls ist die Sehnsucht nach der erneuernden Kraft des Wassers vielen Menschen eigen. Auch für Devoiri -Esty (Shira Haas), die in der Serie „Unorthodox“ die Hauptrolle spielt, ist ein Bad, in dem sie ihr altes Leben abstreift, von hoher symbolischer Bedeutung: nicht in der Mikwe, sondern im Wannsee.
Die Mikwe, die stets mit „lebendigem Wasser“, also Grund-, Fluss-, See- oder Regenwasser gefüllt sein muss, gehört zur jüdischen Tradition ebenso wie die Synagoge oder die Tora. In früheren Zeiten war es normal, dass jede Gemeinde mindestens eine Mikwe hatte, in der Synagoge oder auch in Privathäusern, oft in den Kellern nahe am Grundwasser. Heute lassen sich an rund 400 Orten in Deutschland noch historische Mikwen („Mikwaot“ lautet der hebräische Plural) nachweisen. In Speyer etwa kann man eine Anlage aus der Zeit um 1120, die älteste ihrer Art in Mitteleuropa, besichtigen oder in Sondershausen in Thüringen eine Kellermikwe aus dem 13. Jahrhundert. Aber auch an der Krämerbrücke in Erfurt oder in Synagogen in Hagenow oder Wörlitz sind Tauchbecken erhalten. In Halberstadt kann Jutta Dick, Chefin des Berend Lehmann Museums, sogar drei Becken innerhalb weniger hundert Meter Entfernung zeigen, im Kantorhaus, im ehemaligen Mikwenhaus und, mit einem Geländer abgesichert und für Außenstehende kaum als solche erkennbar, an einem Parkplatz.
In Berlin gibt es keine historische Mikwe mehr. Moderne Mikwen betreiben neben der Masorti-Gemeinde auch die orthodoxe Gemeinde in der Joachimsthaler Straße, die Chabad Lubawitsch Gemeinde in Wilmersdorf und die Gemeinde Kahal Adass Jisroel im Wedding. Heutige Mikwen sind übrigens, versichert Esther Kontarsky, angenehm warm. Möglicherweise wurde das Wasser auch früher im Winter mittels heißer Steine erwärmt. Jedenfalls ist die Sehnsucht nach der erneuernden Kraft des Wassers vielen Menschen eigen. Auch für Devoiri -Esty (Shira Haas), die in der Serie „Unorthodox“ die Hauptrolle spielt, ist ein Bad, in dem sie ihr altes Leben abstreift, von hoher symbolischer Bedeutung: nicht in der Mikwe, sondern im Wannsee.
Fotos: Anika Molnar/netflix; Dorothee Nolte
Erschienen im Tagesspiegel am 11.12.2021
Erschienen im Tagesspiegel am 11.12.2021