In Heimatstuben versuchten die Vertriebenen ihre Erinnerungen zu konservieren. Das Zentrum Flucht, Vertreibung, Versöhnung stellt eine davon aus
Von Dorothee Nolte
Die Heimat, hier hängt sie an der Wand, hinter Glas und in 250 Teilen. Eine Tasse mit dem Abbild des Kaisers, Backformen für kleine Napfkuchen, ein Waschbrett aus Stein, eine Förstertasche mit Patronen, eine Kleegeige, Marienfiguren und Kerzenständer: lauter Objekte, die mehrfach ihre Funktion gewechselt haben. Ursprünglich waren sie dazu da zu kochen, zu jagen, das Feld zu bestellen oder dem Herrgott zu dienen. Dann, in den Fünfzigern, Sechzigern, Siebzigern des vergangenen Jahrhunderts, wurden sie zusammengetragen und in Heimatstuben ausgestellt, um ein Gefühl von Heimat zu erzeugen. Und jetzt?
Im zweiten Stock des Dokumentationszentrums Flucht, Vertreibung, Versöhnung wird die Geschichte der Vertreibung der Deutschen erzählt – angefangen mit der Vertreibungs- und Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten, die das ganze Unheil in Gang setzte. Zwölf bis 14 Millionen Deutsche aus den ehemaligen Ostgebieten des Deutschen Reichs, dem Sudetenland und alten Siedlungsgebieten in Ost- und Südosteuropa verloren ihre Heimat – und versuchten sie, in Sicherheit angekommen, irgendwie zu bewahren, zu rekonstruieren, sichtbar zu machen. In vielen westdeutschen Städten entstanden ab den fünfziger Jahren Heimatstuben, heute ein weitgehend vergessenes oder wenig bekanntes Phänomen.
„Westdeutsche Städte und Kreise übernahmen Patenschaften für Orte, aus denen Deutsche vertrieben worden waren“, erklärt Nils Köhler, Bereichsleiter Dokumentation und Forschung. „Sie stellten ihnen kostenlos Räume zur Verfügung, zum Beispiel im örtlichen Museum. Dort konnten die Vertriebenen ihre Erinnerungsstücke ausstellen und sich treffen.“ In Köhlers Heimatstadt Celle etwa gab es im Museum ein „Marienwerder-Zimmer“, jedes Jahr fand dort ein Treffen der Menschen aus Marienwerder statt, die aus der ganzen Republik anreisten. Zeitweise existierten in Westdeutschland über 1000 solcher Heimatstuben. In der DDR war diese Erinnerungspflege nicht erwünscht, Vertriebene sollten sich möglichst unauffällig in die sozialistische Gesellschaft eingliedern, revisionistische Gedanken gar nicht erst aufkommen.
In den Heimatstuben, betreut von Ehrenamtlichen, wurde alles gesammelt, was die Vertriebenen an ihre Heimat erinnerte: Objekte, die sie auf der Flucht mitgenommen hatten, aber auch solche, die sie bei späteren Reisen nach Polen, Russland oder in die Tschechoslowakei als Souvenirs erwarben. Ein wahres Sammelsurium, in den oft überfüllten Stuben war auch noch der fünfzehnte Bierseidel, der zwanzigste Porzellanteller aus der heimatlichen Fabrik willkommen.
„Die Ehrenamtlichen haben nicht nach denselben Kriterien gesammelt und ausgestellt wie Museumskuratoren“, erklärt Lisa Quade, die im Dokumentationszentrum für die Sammlungen verantwortlich ist. „Es gab zumeist kein durchdachtes Konzept, keine Didaktik.“ Nils Köhler nennt den Grund dafür: „Es ging ihnen ja nicht darum, anderen etwas zu erklären, sondern darum, der eigenen Gruppe ein Heimatgefühl zu ermöglichen.“
Das funktioniert so lange, wie die eigene Gruppe sich noch als solche empfindet, solange genügend Menschen leben, die persönliche Erinnerungen an die Zeit im oder vor dem Krieg haben. Doch diejenigen, die eine Bindung an die früheren Wohnorte bewahrt haben, sterben aus, die Ehrenamtlichen finden keinen Nachwuchs, ihre eigenen Kinder und Enkel haben keinen Zugang mehr zu den heute verstaubt wirkenden Heimatstuben. „Es ist ein großes Sterben der Heimatstuben im Gange“, sagt Nils Köhler. Und damit stellt sich an vielen Orten die Frage: Wohin mit den Schätzen – oder, je nach Blickwinkel, wohin mit dem Plunder?
Im zweiten Stock des Dokumentationszentrums Flucht, Vertreibung, Versöhnung wird die Geschichte der Vertreibung der Deutschen erzählt – angefangen mit der Vertreibungs- und Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten, die das ganze Unheil in Gang setzte. Zwölf bis 14 Millionen Deutsche aus den ehemaligen Ostgebieten des Deutschen Reichs, dem Sudetenland und alten Siedlungsgebieten in Ost- und Südosteuropa verloren ihre Heimat – und versuchten sie, in Sicherheit angekommen, irgendwie zu bewahren, zu rekonstruieren, sichtbar zu machen. In vielen westdeutschen Städten entstanden ab den fünfziger Jahren Heimatstuben, heute ein weitgehend vergessenes oder wenig bekanntes Phänomen.
„Westdeutsche Städte und Kreise übernahmen Patenschaften für Orte, aus denen Deutsche vertrieben worden waren“, erklärt Nils Köhler, Bereichsleiter Dokumentation und Forschung. „Sie stellten ihnen kostenlos Räume zur Verfügung, zum Beispiel im örtlichen Museum. Dort konnten die Vertriebenen ihre Erinnerungsstücke ausstellen und sich treffen.“ In Köhlers Heimatstadt Celle etwa gab es im Museum ein „Marienwerder-Zimmer“, jedes Jahr fand dort ein Treffen der Menschen aus Marienwerder statt, die aus der ganzen Republik anreisten. Zeitweise existierten in Westdeutschland über 1000 solcher Heimatstuben. In der DDR war diese Erinnerungspflege nicht erwünscht, Vertriebene sollten sich möglichst unauffällig in die sozialistische Gesellschaft eingliedern, revisionistische Gedanken gar nicht erst aufkommen.
In den Heimatstuben, betreut von Ehrenamtlichen, wurde alles gesammelt, was die Vertriebenen an ihre Heimat erinnerte: Objekte, die sie auf der Flucht mitgenommen hatten, aber auch solche, die sie bei späteren Reisen nach Polen, Russland oder in die Tschechoslowakei als Souvenirs erwarben. Ein wahres Sammelsurium, in den oft überfüllten Stuben war auch noch der fünfzehnte Bierseidel, der zwanzigste Porzellanteller aus der heimatlichen Fabrik willkommen.
„Die Ehrenamtlichen haben nicht nach denselben Kriterien gesammelt und ausgestellt wie Museumskuratoren“, erklärt Lisa Quade, die im Dokumentationszentrum für die Sammlungen verantwortlich ist. „Es gab zumeist kein durchdachtes Konzept, keine Didaktik.“ Nils Köhler nennt den Grund dafür: „Es ging ihnen ja nicht darum, anderen etwas zu erklären, sondern darum, der eigenen Gruppe ein Heimatgefühl zu ermöglichen.“
Das funktioniert so lange, wie die eigene Gruppe sich noch als solche empfindet, solange genügend Menschen leben, die persönliche Erinnerungen an die Zeit im oder vor dem Krieg haben. Doch diejenigen, die eine Bindung an die früheren Wohnorte bewahrt haben, sterben aus, die Ehrenamtlichen finden keinen Nachwuchs, ihre eigenen Kinder und Enkel haben keinen Zugang mehr zu den heute verstaubt wirkenden Heimatstuben. „Es ist ein großes Sterben der Heimatstuben im Gange“, sagt Nils Köhler. Und damit stellt sich an vielen Orten die Frage: Wohin mit den Schätzen – oder, je nach Blickwinkel, wohin mit dem Plunder?
Die Stuben sollten nichts erklären, sondern der eigenen Gruppe ein Gefühl vermitteln
Das Dokumentationszentrum Vertreibung, Flucht, Versöhnung sammelt grundsätzlich eher Objekte, an die sich persönliche Geschichten knüpfen, wie etwa den Milchtopf, den der Zeitzeuge Hubert Zimmermann als Kind bei seiner Flucht aus dem pommerschen Stolp mitnahm und ein Leben lang aufbewahrte. „Bei einer überstürzten Flucht können Menschen nur mitnehmen, was in einen Koffer, eine Tasche, auf einen Bollerwagen passt“, sagt Nils Köhler. „Meist ist das Wäsche, Behältnisse für Essen und einige wichtige Dokumente, Fotoalben, Erinnerungsstücke.“ Viele Sudetendeutsche hatten immerhin die Chance, zu einem vorher bekannten Termin zwei Holzkisten zu füllen und zum Zug zu bringen – auch derartige Kisten sind in der Ausstellung zu sehen.
Persönlich und historisch bedeutsame Stücke, die manchmal erst jetzt auf Dachböden und in Truhen gefunden werden, nimmt das Zentrum gerne von Zeitzeugen oder ihren Nachfahren entgegen. Aber ganze Heimatstuben? „Das können wir nicht“, sagt Lisa Quade. Deswegen hat man sich entschlossen, eine einzige von ihnen komplett zu übernehmen: die Altvater-Heimatstube aus dem baden-württembergischen Gärtringen. Vertriebene aus dem mährischen Altvater-Gebirge, das heute zum Nordosten Tschechiens gehört, haben all die Porzellantassen, Gläser, Schuhe, Zangen und Schmuckkästchen zusammengetragen, insgesamt 2000 Objekte. 250 davon hängen nun im Zentrum an der Wand, nach Bereichen eingeteilt – Häusliches, Landwirtschaft, Sakrales, Handwerk. Die Präsentation erinnert an eine barocke Wunderkammer, die allerdings so gar nichts Exotisches hat, denn man glaubt fast alles vom Flohmarkt her zu kennen.
Persönlich und historisch bedeutsame Stücke, die manchmal erst jetzt auf Dachböden und in Truhen gefunden werden, nimmt das Zentrum gerne von Zeitzeugen oder ihren Nachfahren entgegen. Aber ganze Heimatstuben? „Das können wir nicht“, sagt Lisa Quade. Deswegen hat man sich entschlossen, eine einzige von ihnen komplett zu übernehmen: die Altvater-Heimatstube aus dem baden-württembergischen Gärtringen. Vertriebene aus dem mährischen Altvater-Gebirge, das heute zum Nordosten Tschechiens gehört, haben all die Porzellantassen, Gläser, Schuhe, Zangen und Schmuckkästchen zusammengetragen, insgesamt 2000 Objekte. 250 davon hängen nun im Zentrum an der Wand, nach Bereichen eingeteilt – Häusliches, Landwirtschaft, Sakrales, Handwerk. Die Präsentation erinnert an eine barocke Wunderkammer, die allerdings so gar nichts Exotisches hat, denn man glaubt fast alles vom Flohmarkt her zu kennen.
„Über die Geschichte der einzelnen Objekte – wer hat sie wie mitgebracht, wer genau nutzte sie – wissen wir wenig“, sagt Quade. „Es geht hier darum, an die Heimatstuben zu erinnern, ohne jedoch eine nachzustellen. Wir wollten bewusst keine Stube mit ihrer ganzen Atmosphäre nachbauen, sondern den Charakter eines Erinnerungsspeichers hervorheben, eine wichtige Funktion für das kollektive Gedächtnis.“
Wie eine solche Heimatstube tatsächlich ausgesehen hat, erfahren die Besucher:innen in einem Video. Es zeigt, wie die Heimatstube in Eutin in Schleswig-Holstein, aufgelöst wurde. Die Stube, die an die Gemeinde Neustettin in Hinterpommern erinnerte, war eine späte Gründung aus den achtziger Jahren. Fast vierzig Jahre lang konnten die Neustettiner in Räumen des Eutiner Marstalls ihre Erinnerungsstücke aufbewahren und präsentieren, doch 2018 entschied der Kreis Ostholstein, die Räume anders zu nutzen. Denn welchen Sinn hat eine Heimatstube, wenn so gut wie keine Besucher mehr kommen und es nicht mehr genügend Ehrenamtliche gibt, die regelmäßige Öffnungszeiten sicherstellen können? Einen Teil der Objekte konnten die Verantwortlichen an Museen oder Privatleute übergeben, aber Dinge, die keine Liebhaber finden, müssen eben, wie auch im eigenen Haushalt, auf den Müll.
Zum Glück gibt es heute die Möglichkeit, alles zu fotografieren und zu digitalisieren, und das ist im Falle der Eutiner Heimatstube auch geschehen. Dennoch, das geht aus dem Video hervor: Es tut weh, sich von den Zeugnissen der Vergangenheit zu trennen, und damit auch von den vielen Geschichten, die sich um die Begegnungsstätte und um einzelne Objekte ranken. „Eins vergesse ich nie“, erzählt eine Ehrenamtliche. „Da kam eine Frau zu uns und fragte, ob wir etwas über die Kirche in Neustettin wüssten, ihr Vater sei dort Pastor gewesen. Ich sagte, na klar, und führte sie zu unserem Foto von der Kirche. Davor stand ihr Vater. Sie sah es an und konnte gar nicht mehr aufhören zu weinen: Es war das einzige Foto, das sie von ihrem Vater je gesehen hat.“
Nils Köhler ist von dem Phänomen der Heimatstuben fasziniert. „Diese Ambivalenz: Einerseits steckt so viel Geschichte, so viel Arbeit, so viel Erinnerung darin. Andererseits haben sie den Heutigen kaum mehr etwas zu sagen.“
Und so stellen die Objekte an der Wand auch den Glücklichen unter uns, die niemals vertrieben wurden, viele Fragen. Was ist mir wert, aufgehoben zu werden? Wie wichtig ist mir dieses Erb- oder Erinnerungsstück, kann es die verlorene Heimat, die verlorene Zeit zurückholen, mir ein Gefühl von Verwurzelung geben, mich mit denen verbinden, die Ähnliches gesehen oder erlebt haben? Mit jedem neuen Tag verwandelt sich Leben in Vergangenheit. Was bleibt?
Wie eine solche Heimatstube tatsächlich ausgesehen hat, erfahren die Besucher:innen in einem Video. Es zeigt, wie die Heimatstube in Eutin in Schleswig-Holstein, aufgelöst wurde. Die Stube, die an die Gemeinde Neustettin in Hinterpommern erinnerte, war eine späte Gründung aus den achtziger Jahren. Fast vierzig Jahre lang konnten die Neustettiner in Räumen des Eutiner Marstalls ihre Erinnerungsstücke aufbewahren und präsentieren, doch 2018 entschied der Kreis Ostholstein, die Räume anders zu nutzen. Denn welchen Sinn hat eine Heimatstube, wenn so gut wie keine Besucher mehr kommen und es nicht mehr genügend Ehrenamtliche gibt, die regelmäßige Öffnungszeiten sicherstellen können? Einen Teil der Objekte konnten die Verantwortlichen an Museen oder Privatleute übergeben, aber Dinge, die keine Liebhaber finden, müssen eben, wie auch im eigenen Haushalt, auf den Müll.
Zum Glück gibt es heute die Möglichkeit, alles zu fotografieren und zu digitalisieren, und das ist im Falle der Eutiner Heimatstube auch geschehen. Dennoch, das geht aus dem Video hervor: Es tut weh, sich von den Zeugnissen der Vergangenheit zu trennen, und damit auch von den vielen Geschichten, die sich um die Begegnungsstätte und um einzelne Objekte ranken. „Eins vergesse ich nie“, erzählt eine Ehrenamtliche. „Da kam eine Frau zu uns und fragte, ob wir etwas über die Kirche in Neustettin wüssten, ihr Vater sei dort Pastor gewesen. Ich sagte, na klar, und führte sie zu unserem Foto von der Kirche. Davor stand ihr Vater. Sie sah es an und konnte gar nicht mehr aufhören zu weinen: Es war das einzige Foto, das sie von ihrem Vater je gesehen hat.“
Nils Köhler ist von dem Phänomen der Heimatstuben fasziniert. „Diese Ambivalenz: Einerseits steckt so viel Geschichte, so viel Arbeit, so viel Erinnerung darin. Andererseits haben sie den Heutigen kaum mehr etwas zu sagen.“
Und so stellen die Objekte an der Wand auch den Glücklichen unter uns, die niemals vertrieben wurden, viele Fragen. Was ist mir wert, aufgehoben zu werden? Wie wichtig ist mir dieses Erb- oder Erinnerungsstück, kann es die verlorene Heimat, die verlorene Zeit zurückholen, mir ein Gefühl von Verwurzelung geben, mich mit denen verbinden, die Ähnliches gesehen oder erlebt haben? Mit jedem neuen Tag verwandelt sich Leben in Vergangenheit. Was bleibt?
Foto: Michael Gröteke/Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung
Erschienen im Tagesspiegel am 19.06.2021
Erschienen im Tagesspiegel am 19.06.2021