Flucht, Vertreibung, Versöhnung

Nur wer Flucht erlebt hat, kann sie begreifen

Zoya Mahfoud ist vor fünf Jahren aus Syrien nach Berlin geflohen. Bei einem Besuch der neuen Ausstellung erinnert sie sich an eigene Erlebnisse – und vergleicht

Von Zoya Mahfoud

Ich habe einmal gelernt, dass alle Menschen gleich sind. In der am 10. Dezember 1948 von den Vereinten Nationen verabschiedeten Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte heißt es in Artikel 1: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.“ Das ist ein schönes Ideal.

Im Dokumentationszentrum „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ können wir sehen, was tatsächlich in der Welt passiert ist und passiert. Ja, bei meinem Besuch dort wollte ich die Bilder der Ausstellung, die kalten Wände berühren. Eigentlich wollte ich nur weinen.

Geflohene Kinder zeigen selbstgemalte Bilder ihrer Flucht, die Ängste und Schrecken des Krieges. Vielleicht können sie mit ihren kleinen Händen diese arrogante Welt bewegen. Frauen, die ihre Babys auf dem Schoß halten, starren in die Kameralinse und fixieren mit ihren Augen diese Welt. Es ist ein Schrei der Angst und Wut.

Krieg ist immer Krieg. Flucht ist immer Flucht. Exil ist immer Exil. So geht es weiter ohne Ende. Wenn ich mir die Fotos ansehe, erinnere ich mich an viele Situationen, die ich selber erlebt habe, Situationen, in denen man nur nach vorne schauen darf oder muss. Wenn man das nicht schafft, dann gelingt es einem auch nicht, ein neues Leben zu beginnen.
Blickwinkel. Wer selbst geflohen ist wie Zoya Mahfoud (hier im Gespräch mit Jochen Krüger von der Stiftung), betrachtet die Stücke, die in der Ausstellung präsentiert werden, mit anderen Augen.
Blickwinkel. Wer selbst geflohen ist wie Zoya Mahfoud (hier im Gespräch mit Jochen Krüger von der Stiftung), betrachtet die Stücke, die in der Ausstellung präsentiert werden, mit anderen Augen.
Ich habe gelesen, wie es damals war, nach dem Zweiten Weltkrieg, als Millionen Deutsche vertrieben wurden. Ich war erstaunt, dass auch viele Deutsche damals in Deutschland unerwünscht waren. Eine deutsche Freundin hat mir, bei einem Kaffee auf einer schönen Terrasse, von ihren persönlichen Erfahrungen dieser schmerzhaften Zeit erzählt. Sie war damals 15 Jahre alt.

Etwa 14 Millionen Deutsche wurden aus ihrer Heimat vertrieben – und heute sprechen wir in der globalen Syrienkrise auch von etwa zwölf Millionen Menschen, die aus ihrer Heimat geflohen sind. Es ist meine Flucht, und es war es ein Weg mit vielen Dornen. Nur wer den Fluchtweg durchlebt hat, kann ihn begreifen. Ich trug auf meinem Rücken einen Rucksack voller Erinnerungen und einer Hose, Medikamente für den Magen und gegen Kopfschmerzen und einige Ausweispapiere wie meinen Personalausweis, meine Abschlusszeugnisse und meinen Presseausweis. Ich weiß nicht, welche der damaligen Freunde mir rieten, den Presseausweis mitzunehmen, oder ob sie mich vielleicht verspotteten. Auf dem Fluchtweg traf ich viele Menschen, Frauen und Männer, Jugendliche und sogar Kinder ohne ihre Familie. Ein Faden, der uns alle verband, war, dass wir alle Fremde waren und uns nicht kannten und nicht wussten wohin. Aber wir flohen alle, verängstigt, hilflos. Nichts war klar, nur unsere Schritte in diesen kalten Dezembernächten auf der Insel Kos. Wir wollten alle auf die andere Seite der Welt fliehen. Aber wir wussten nicht, wohin uns das Schicksal schleudern würde. Mich hat es nach vielen Stationen schließlich nach Berlin gebracht.

Dort, am Bahnhof Zoo hat ein Freund auf mich gewartet. Ich erinnere mich an diesen Tag, den 23. Dezember, um zehn Uhr nachts, einen Tag vor Weihnachten. Ich weiß nicht, ob ich noch unter der Narkose dieser schmerzhaften Reise war. Ich sagte ihm, ich möchte nur schlafen. Er sagte: „Du kannst jetzt nicht. Du musst dich sofort beim Lageso registrieren, sonst bekommst du kein Bett.“ Dort habe ich sofort meine syrischen Papiere abgegeben und als Asylbewerberin das erste Papier mit deutschem Stempel erhalten.

Viele Leute glauben, dass sich Menschen freiwillig entschließen zu fliehen. Ich glaube nicht, dass Flucht jemals freiwillig ist, heute nicht und auch früher nicht. Die Ausstellung zeigt Geschichten von vielen Fluchten und Vertreibungen. Die Frage ist, ob wir die Erfahrungen von Geflüchteten und Vertriebenen heute und damals vergleichen können. Teilen sie ein gemeinsames Schicksal? Natürlich ist jede Erfahrung, jedes Leiden anders. Für die neuen Flüchtlinge gibt es heute viele Herausforderungen, wie vor allem die Sprache, die Mentalität, ethnische Zugehörigkeit, Bräuche, Traditionen, unterschiedliche Kulturen.

Meine deutsche Freundin sagt mir, auch sie waren Fremde im eigenen Land

Aber auch die geflohenen Menschen von damals erinnern sich an solche Herausforderungen. Als ich meine ältere deutsche Freundin fragte, mit welchen Herausforderungen und Schwierigkeiten sie als Flüchtlinge konfrontiert waren und ob es auch wie heute Programme und Projekte zur Integration gab, konnte sie nur lachen. „Wir gehörten auch einer anderen Kultur an und wir wurden behandelt wie heute viele Ausländer“, sagte sie. „Auch unsere Sprache war für viele Menschen fremd und wir mussten eine neue deutsche Sprache lernen, weil wir andere Dialekte sprachen.“ Der Kellner unterbricht uns mit einem leckeren Eis. Meine Freundin isst davon und sagt: „So ein Eis war ein Traum für uns. Wir waren zu dritt – meine Mutter, meine kleine Schwester und ich. Wir haben erlebt, wie es ist, Flüchtlinge in unserem eigenen Heimatland zu sein.“

Vor fünf Jahren musste ich mich radikal von Familie, Freunden, meiner gewohnten Umgebung trennen, neue Freunde, einen neuen Ort suchen. Ich musste wieder lernen, ein neues Alphabet beginnen, um sicher auf den Boden zu treten und ein neues Zuhause zu bauen. Vor allem die ersten Monate nach Ankunft waren schwierig: Ich konnte mit niemandem über meine Probleme sprechen, es war sehr schwer. Dabei war es wichtig, schnell Deutsch zu lernen und sich auch im Alltag verständigen zu können. Das Leben hier ist mit großen bürokratischen Hürden verbunden. Briefe von Ämtern und Behörden werden immer in einer offiziellen, bürokratischen Sprache verfasst.

Am Anfang war ich nicht stabil. Ich hatte immer das Gefühl auf einem Koffer zu sitzen. Als wären diese Orte, Straßen und Häuser nichts anderes als Bahnhöfe, an denen ich auf einen Zug wartete, von dem ich nicht wusste, wann und wie er kommen würde.

Heute ist mir das neue Leben vertrauter geworden. Heute ist dieses Land ein Zuhause für mich, und meine Heimat ist vielleicht die Erinnerung. Es ist für mich schwierig, die Frage zu beantworten: „Wollen Sie nach Syrien zurückkehren, wenn …?“, weil ich keine klare Antwort auf diese Frage weiß.

Heute versuche ich hier mein Haus mit all diesen Widersprüchen zu bauen. Jede Geschichte ist einzigartig und erzählt von der Flucht und dem Ankommen in der neuen Gesellschaft. Je mehr wir davon hören, desto mehr verstehen wir die Kraft und Widerstandskraft, die Menschen dafür aufbringen müssen.
                

Schlüssel aus Königsberg und Aleppo

Wie Objekte neue Perspektiven erschließen

Dem alten Schlüssel sieht man nicht an, woher er kommt. Es ist eben ein Schlüssel, der einen langen Weg hinter sich hat. Er stammt aus Königsberg, und die Tochter, die ihn dem Museum überlassen hat, verbindet eine Geschichte damit. Aber könnte er nicht auch aus Jaffa oder Aleppo stammen? Er könnte. Denn der Schlüssel öffnet im wahrsten Sinne die Herzen der Besucher, erschließt Geschichten, von 1945, 1948 und auch von 2015.

„Perspektivwechsel“ nennt das Daniel Ziemer, der mit Jenny Baumann die Bildungsarbeit im Dokumentationszentrum Flucht, Vertreibung, Versöhnung verantwortet. Ein Objekt lasse sich aus verschiedenen Perspektiven betrachten, fordere zu Gesprächen heraus. Die Bildungsarbeit solle sich nicht auf Führungen und Workshops beschränken. Sie setze bereits in der ständigen Ausstellung ein, wo es immer wieder Objekte gebe, die einen Perspektivwechsel herausforderten, betont Ziemer. „Der Schlüssel ist eine universelle Erfahrung“, sagt Baumann. Und schon weitet sich der Horizont über den Schicksalen deutscher Geflüchteter und Vertriebener.

Zur Didaktik gehört auch, Besucher direkt anzusprechen. Im „Forum“ werden die Gäste des neuen Hauses eingeladen, sich über den Audioguide einzubringen. „Was bedeutet die Eröffnung des Dokumentationszentrums für Sie persönlich? Was würden Sie nicht zurücklassen? Worüber müssen wir sprechen?“ Gerade Klassen mit Schülern unterschiedlichster Herkunft können hier viel kommentieren. „Das Publikum ist Experte in eigener Sache, jeder bringt andere Erzählungen mit, wie etwa jemand aus Sarajevo“, sagt Ziemer. Mit Führungen für Schulklassen und einer Jugendgruppe von Karame e. V. haben Ziemer und Baumann schon vor der Eröffnung Erfahrungen gesammelt.

„Was hat das mit mir zu tun?“ ist auch so ein Satz, der zumindest zum Antworten aufruft. Der Eröffnungsworkshop „Wir und Ihr“ behandelt universelle Fragen von Ausgrenzung und Zuschreibungen. „Wie kann Vielfalt gelingen, was ist eine Minderheit und wieso?“ Das Haus bietet Geschichten an, lädt aber auch dazu ein, selbst welche zu erzählen. Zum Beispiel über den eigenen Fluchtweg, der dann in eine Weltkarte eingezeichnet wird.

Ab Juli beginnen die öffentlichen Führungen, die auch für Blinde und in Gebärdensprache angeboten werden. Daniel Ziemer: „Geschichtsbilder sind Konstrukte, sie laden ein, sie aus unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten, immer wieder.“ Walter van Hoof
Fotos: Markus Gröteke / architectureshooting, Doris Spiekermann-Klaas
Erschienen im Tagesspiegel am 19.06.2021