Diversity 2019

„Uns gehen Talente verloren“

FU-Professor Jürgen Gerhards über die Verteilung von Lebenschancen

Von Dorothee Nolte

Welche Gruppe von Menschen hat in Deutschland die besten Chancen, auf eine Universität zu kommen?
Das sind eindeutig die höher Gebildeten: Kinder, die aus Elternhäusern kommen, die selbst einen hohen Bildungsabschluss haben. 8,8 Prozent der Studierenden haben Eltern mit einem Hauptschulabschluss, bei 45,9 Prozent haben die Eltern selbst einen Hochschulabschluss. Dass die soziale Herkunft – definiert durch den Bildungsabschluss der Eltern – eine so zentrale Rolle spielt beim Zugang zur Universität und bei der Verteilung von Lebenschancen, ist ein großes Problem, wird aber im Diversitätsdiskurs an den Universitäten oft übersehen. Stattdessen konzentriert man sich fast ausschließlich auf die Faktoren Geschlecht und sexuelle Orientierung.

Spielen denn das Geschlecht und die sexuelle Orientierung keine Rolle mehr – herrscht da Chancengerechtigkeit?
Das Geschlecht spielt beim Zugang zur Universität in der Tat keine Rolle mehr. Frauen sind unter den Studierenden ungefähr gleich stark repräsentiert. In den Fächern mit einem hohen NC sind die Frauen sogar überrepräsentiert, weil sie im Durchschnitt bessere Abiturnoten haben. In der Humanmedizin etwa haben wir ein Verhältnis von 60:40 zu Gunsten der Frauen. Dass sie in technischen Fächern unterrepräsentiert sind, hat weniger mit Ungerechtigkeit und Diskriminierung zu tun als mit ungleichen Vorlieben. Benachteiligung von Frauen gibt es natürlich nach wie vor, vor allem im späteren Lebensverlauf bei den Karrierechancen auf dem Arbeitsmarkt.

Und die sexuelle Orientierung?
Das ist empirisch nicht einfach zu bestimmen, denn die sexuelle Orientierung wird nicht in amtlichen Statistiken erfasst und auch in Umfragen von den Betroffenen oft nicht preisgegeben. Aber selbst wenn man konservativ rechnet, also etwa nur Menschen als homo- oder bisexuell zählt, die im sozioökonomischen Panel des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung angegeben haben, dass sie mit einem Menschen gleichen Geschlechts zusammenleben, kann man feststellen: Homo- und Bisexuelle sind unter den Studierenden nicht unter-, sondern sogar leicht überrepräsentiert.

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JÜRGEN GERHARDS
(64) ist Professor für Makrosoziologie an der FU Berlin. In der Fachzeitschrift „Leviathan“ hat er einen Aufsatz zur sozialen Herkunft als Diversity-Faktor veröffentlicht.

Bleibt also die soziale Herkunft als Kriterium …
Und der Migrationshintergrund! Das ist der zweitwichtigste Faktor. Wenn man die statistische Wahrscheinlichkeit berechnet, ob ein Mensch an eine Universität gelangen wird oder nicht, dann ist sie am geringsten bei einem türkeistämmigen heterosexuellen Mann aus einem nicht-akademischen Haushalt, am höchsten dagegen bei einer lesbischen Frau aus einem Akademikerhaushalt. Das hat uns selbst überrascht: dass sich bestimmte Merkmale, die mit Diskriminierung in Verbindung gebracht werden wie „Frau“ und „homosexuell“, nicht etwa negativ aufaddieren, sondern Personen mit diesen Merkmalen unter den Studierenden überrepräsentiert sind.

Dieselben Personen können aber, sobald sie den geschützten Raum der Universität verlassen und in der U-Bahn sitzen oder eine Führungsposition anstreben, doch Opfer von Diskriminierung sein.
Ja, natürlich. Entsprechend ist es wichtig, zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen zu unterscheiden. Aber was den Zugang zur Universität, auch etwa zu Stipendien anbelangt, sind es andere Gruppen, die benachteiligt sind. Da steht die alte Klassenfrage im Raum, die aber in der aktuellen Debatte über Diverstität völlig verdrängt wird. Bildungsbürgerliche Eltern investieren von Anfang an kräftig in ihre Kinder, schicken sie auf gute Kitas, gute Schulen, ermöglichen ihnen Nachhilfeunterricht und interessante Begegnungen und Erfahrungen. Kinder aus bildungsfernen Schichten tun sich deutlich schwerer, weil sie von Hause aus nicht das gleiche Auftreten, die Redegewandtheit und die Verbindungen mitbringen. Das ist nicht nur ungerecht, es ist auch eine Verschwendung von Ressourcen: Denn es gehen uns Talente verloren. Und da Bildung nicht nur über den Zugang zu Berufen entscheidet, sondern in vielfältiger Weise die Lebenschancen (Einkommen, Gesundheit, Kontakte) beeinflusst, ist es in vielfacher Weise ungerecht, wenn ganze Bevölkerungsgruppen abgehängt werden.
Wie kann dem abgeholfen werden?
Das ist nicht einfach, denn gerade diese feinen Unterschiede im „Habitus“, wie es der Soziologe Pierre Bourdieu genannt hat, lassen sich schwer steuern. Es braucht mehr Förderprogramme und Stipendien für diese Gruppe. Und die Auswahlkommissionen etwa beim DAAD oder bei der Studienstiftung müssen für dieses Problem stärker sensibilisiert werden, damit sie nicht junge Menschen ausschließen, nur weil sie anders reden oder sich anders verhalten.

Woran liegt es, dass der Faktor soziale Herkunft in den Diversity-Debatten bisher eine untergeordnete Rolle spielt?
Da kann ich nur spekulieren. Ich vermute, das liegt vor allem an der sozialen Herkunft derer, die über Diversity sprechen: Sie stammen meist selbst aus bildungsbürgerlichen Elternhäusern. Ich sehe da eine Selbstvergessenheit, was die eigene Herkunft angeht, und eine Verengung des Blicks.
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Eine Sonderveröffentlichung der Deutschen Bahn AG

Vielfalt fördern ist erfolgskritisch
Für Martin Seiler, Vorstand Personal und Recht der Deutschen Bahn AG, ist Diversity Management geschäftsrelevant. Aus Anlass der DIVERSITY 2019 erklärt er die Parallelen zwischen Vielfalt und Digitalisierung und wie die DB das Thema fördert.
REGENBOGENFLAGGE AM HAUPTBAHNHOF
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Im Juli 2019 wehten am Berliner Hauptbahnhof und an anderen Bahnhöfen bundesweit zwei Wochen lang die Regenbogenflaggen. Mit der Aktion will das Unternehmen Haltung demonstrieren, nach innen wie nach außen.
Diversity ist vergleichbar mit der Digitalisierung: Sie ist kein Buzzword – sie ist eine Realität, die Herausforderung und Chance zugleich ist. Heute würde niemand mehr behaupten, dass Digitalisierung ein Nischenthema wäre, ein Steckenpferd von ein paar Technik-Nerds. Mit Diversity ist es ähnlich: früher manchmal belächelt, ist heute die Beschäftigung mit Vielfalt in Unternehmen geschäftskritisch. Und zwar mehr denn je. Vielfalt gab es schon immer. Was sich geändert hat, ist das Bedürfnis des Einzelnen, in seiner Individualität anerkannt zu werden, und zwar auch am Arbeitsplatz. Diese Entwicklung kann kein_e Arbeitgeber_in ignorieren. Wer weiterhin alle Beschäftigten über einen Kamm schert, der wird es nicht nur schwer haben, ausreichend qualifizierte und motivierte Mitarbeitende zu finden und zu halten, sondern auch, die notwendige Innovationsfähigkeit zu entwickeln, die es heute braucht. Die Forschung bestätigt unsere Erfahrung: vielfältige Teams sind erfolgreicher.
Dies gilt in besonderem Maße für ein Unternehmen wie die Deutsche Bahn. Wir haben weltweit rund 330.000 Beschäftigte, allein in Deutschland stammen unsere 205.000 Mitarbeitenden aus 150 Nationen. Bei uns arbeiten Menschen aus fünf Generationen und im Zuge unserer Einstellungsoffensive kommen jedes Jahr rund 20.000 neue Mitarbeitende hinzu – die meisten von ihnen gehören zur jungen Generation. Wir sind einerseits stark auf das Wissen altgedienter Eisenbahner_innen angewiesen, gleichzeitig brauchen wir Digitalexpert_innen. Und schließlich sind wir als Dienstleistungsunternehmen jeden Tag mit 7,3 Millionen Reisenden in Kontakt, die so vielfältig sind wie die Gesellschaft.
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Martin Seiler, Vorstand Personal und Recht der Deutschen Bahn
Deshalb hat die DB in diesem Jahr den Fokus auf den Wert von Vielfalt erhöht. Als Arbeitgeber signalisieren wir nach innen wie nach außen, dass wir verschiedene Persönlichkeiten, Werte, Berufserfahrungen, Kompetenzen und Perspektiven bei unseren Mitarbeitenden schätzen und willkommen heißen.

Zum Ausdruck kommt diese Haltung etwa durch ein aktives Generationenmanagement mit Patenschaftsprogrammen und aktivem Onboarding. Oder durch die Förderung der internen Netzwerke unserer Mitarbeitenden, etwa „Frauen bei der Bahn“ oder „railbow“, dem LGBTIQ-Netzwerk.

Um eine Haltung, die Vielfalt stärkt, zu fördern, braucht es keine großen Programme: So sensibilisieren wir gezielt Entscheider_innen im Einstellungsprozess, unbewusste Vorurteile wahrzunehmen und diese damit unwirksam zu machen. Oder bei der Nachfolgeplanung dafür zu sorgen, dass keine homogenen Teams entstehen und potenzielle Kandidat_innen zur Vielfalt des Teams beitragen. Dies kann durch digitale Tools unterstützt werden, ist aber in erster Linie eine Frage des Bewusstseins.

Und das ist möglicherweise der Unterschied zur Digitalisierung: Vielfalt fördern ist einfach. Man muss es nur tun!
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Dagmar Kaiser
Leiterin Kommunikation
Personal

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Foto: privat
Erschienen im Tagesspiegel am 14.11.2019