Diversity 2019

Beste Verbindungen

Aufsteiger sind motiviert – fallen aber oft durchs Raster. Das „Netzwerk Chancen“ hilft

Von Dorothee Nolte

Es war ein kleines Wort, das sie verriet. „Geil!“, sagte Natalya Nepomnyashcha, und sie sagte es ausgerechnet im Bewerbungsgespräch bei einer Unternehmensberatung. Was unter Freunden nicht aufgefallen wäre, verhagelte ihr den Job. Einer der Momente, in denen sie das Gefühl hatte: Irgendwie kenne ich die Regeln nicht, irgendwas mache ich falsch – mir fehlt die Selbstverständlichkeit, der Stallgeruch. Vielleicht weil ich aus einer Hartz-IV-Familie komme?

Es gab noch andere Momente im Leben der gebürtigen Kiewerin und Gründerin des „Netzwerks Chancen“, die ihr klarmachten, wie wichtig die soziale Herkunft ist. Ihre Eltern kamen als jüdische Kontingentflüchtlinge 2001 aus der Ukraine nach Deutschland, da hatten sie, bedingt durch den wirtschaftlichen Zusammenbruch nach dem Ende der Sowjetunion, schon lange ihre Fabrikjobs verloren und fanden hier auch keine neuen. Also Hartz IV, Abkapselung, viel russisches Fernsehen, man lernt kein Deutsch, die 11-jährige Tochter muss alleine sehen, wie sie sich durchs Schulsystem schlägt. Hilfe bei den Schularbeiten oder gute Tipps sind nicht zu erwarten.

Nepomnyashcha besucht die Realschule. „Als ich versuchte aufs Gymnasium zu wechseln, wurde ich ausgelacht“, erzählt sie. Also schließt sie als Schulbeste die Realschule ab, macht Ausbildungen zur Fremdsprachenkorrespondentin und zur Übersetzerin/Dolmetscherin. Und kommt ohne Abitur doch noch an die Universität: Da ihre Ausbildungen in Großbritannien mit dem Bachelor gleichgesetzt werden, kann sie dort einen Master in internationaler Politik machen. „Danach dachte ich: Jetzt steht mir die Welt offen!“
Aber so war es nicht. Ihr fehlten die Netzwerke, die Verbindungen, die anderen Absolventen den Weg in Praktika und Jobs ebneten, und sie glaubt: „Das hatte mit meiner sozialen Herkunft zu tun. Es ist sehr viel schwieriger, beruflich Fuß zu fassen, wenn man diesen Hintergrund hat.“ Nach mehreren Stationen unter anderem bei einer NGO in Westafrika und bei einer deutsch-russischen Young-Leaders-Konferenz ist sie jetzt in einer PR-Agentur angestellt. Aber ihre anfänglichen Probleme hat sie nicht vergessen. Deswegen hat sie das „Netzwerk Chancen“ gegründet, das jungen Menschen aus schwierigen Verhältnissen den Aufstieg erleichtern soll.

Ihr Netzwerk steht allen Menschen zwischen 18 und 39 Jahren offen, die aus finanzschwachen oder nicht-akademischen Familien kommen. Im Moment sind es rund 400 junge Menschen, die durch das Netzwerk Gelegenheit erhalten, an Workshops teilzunehmen, Arbeitgeberkontakte zu knüpfen, sich in geschützten Räumen auszutauschen und gegenseitig zu unterstützen. Man trifft sich etwa bei den „inspirational talks“, die prominente Aufsteiger geben: „Beim nächsten Mal wird Pinar Atalay sprechen“, freut sich Nepomnyashcha.

Als Gründerin leitet sie das Netzwerk ehrenamtlich zusammen mit ebenfalls ehrenamtlichen Teams in Berlin und Frankfurt am Main. Es gibt lediglich eine Mitarbeiterin in Teilzeit, die von einer kleinen Stiftung finanziert wird. „Wir wünschen uns Unterstützung durch Unternehmenspartner“, sagt Nepomnyashcha. „Aber die Unternehmen haben das Thema soziale Aufsteiger nicht auf dem Schirm. Sie sagen: Wir fördern Frauen. Ja, das ist wichtig! Aber es gibt auch weiße deutsche Männer, die aus prekären Verhältnissen kommen und Förderung brauchen. Die fallen durchs Raster.“

Den Blick auf Menschen zu lenken, die sich aus schwierigen sozialen Verhältnissen hocharbeiten, sei im Übrigen kein Gnadenbeweis, sondern für die Unternehmen selbst vorteilhaft. „Bisher wird der Wert der sozialen Aufsteiger zu wenig erkannt“, sagt Nepomnyashcha. „Es klingt offenbar irgendwie nach Gosse. Dabei sind das Menschen, die schon bewiesen haben, wie durchsetzungsstark und motiviert sie sind. Sonst hätten sie ihr soziales Milieu ja gar nicht verlassen!“

— Mehr unter www.netzwerk-chancen.de
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Levi's

Es braucht das vierte „D“

Unternehmen müssen umdenken: Zusammenhalt ist ein harter Standortfaktor

Seit dem PISA-Schock 2000 ist bekannt, dass es kein anderes OECD-Land gibt, in dem die soziale Herkunft so stark über Bildungs- und damit Arbeitsmarktchancen entscheidet wie Deutschland. Insofern verwundert es, dass sie in den Diversity-Konzepten vieler Unternehmen keine große Rolle spielt. Das mag an den unzureichenden Personal- und Sozialdaten liegen und am fehlenden gesetzlichen Handlungsdruck. Weiterhin ist zu vermuten, dass die soziale Herkunft ein eher unbequemes Thema ist, richtet es den Blick doch auf Machthierarchien.

Die Elitenforschung weist darauf hin, dass die obersten Führungsetagen nicht nur vor allem männlich, weiß und westdeutsch sind. Eliten rekrutieren sich in einigen Branchen auch sehr stark aus bürgerlichen bis großbürgerlichen Kreisen. Organisationen wie die OECD warnen vor einer Gefährdung des sozialen Zusammenhalts durch die wachsende soziale Ungleichheit. Die reichsten 10 Prozent sind in Deutschland deutlich reicher als in den meisten anderen OECD-Staaten. Sie verfügen über 60 Prozent des Vermögens. Die zugleich zunehmende Einkommensungleichheit sowie ein gespaltener Arbeitsmarkt mit inzwischen mehr als sieben Millionen prekär beschäftigten Menschen schwächen die Integrationsfähigkeit der Gesellschaft und das Vertrauen in das politische System, so die Autor*innen der OECD. In den vergangenen 20 Jahren ist außerdem die Lohnschere in Deutschland relativ stärker auseinandergegangen als in den USA oder Großbritannien. Hauptgrund ist die gesunkene Tarifbindung, so eine Studie der Bertelsmann Stiftung.

Schüler aus benachteiligten Familien für sich gewinnen

Demokratieforscher wie Wolfgang Merkel vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung oder Oliver Nachtwey von der Universität Basel sehen in der wachsenden sozialen Ungleichheit die größte Gefahr für die Demokratie, da sich immer mehr Menschen aus zentralen Bereichen der Gesellschaft ausgeschlossen fühlen und sich viele aus dem politischen System zurückziehen.

Gleichzeitig hat die soziale Verunsicherung massiv um sich gegriffen, was auch zur Folge hat, dass Privilegien aggressiv verteidigt werden oder nach unten getreten wird. Der Rechtspopulismus lenkt die wachsende Unzufriedenheit geschickt auf Sündenböcke. Geflüchtete, Muslime, Juden und andere gesellschaftliche Gruppen werden zu Projektionsflächen für eigene Unsicherheiten. Genderbashing und Homophobie gehören zum weiteren Arsenal. Die Diversität unserer Gesellschaft ist im Kontext wachsender sozialer Ungleichheit zum Prisma grundlegenderer Auseinandersetzungen geworden.

Daher ist es wichtig, dass Unternehmen stärker als bisher den sozialen Ausgleich fördern und die soziale Herkunft mehr in den Blick nehmen. Einige Unternehmen sind hier schon aktiv, wie etwa die Berliner Stadtreinigung: Sie bietet berufsvorbereitende und soziale Maßnahmen an und unterstützt wie FedEx Express die Initiative Arbeiterkind.de, die Schüler*innen aus Familien ohne Hochschulerfahrung zum Studieren ermutigt. Andere Unternehmen arbeiten gezielt mit Schulen und Hochschulen zusammen, die versuchen, stärker Schüler und Studierende aus sozial benachteiligten Milieus zu gewinnen und fördern. Oder sie werben bewusst in sozial schwächeren Gebieten für sich als Arbeitgeber und Ausbilder.

Nur wenn es Wirtschaft, Politik und Gesellschaft gelingt, die dynamischen Veränderungen unserer Zeit, die drei Ds der Megatrends „Demografie – Digitalisierung – Diversity“ in Verbindung mit dem vierten D, der Demokratie und dem sozialen Zusammenhalt, zu gestalten, werden die Grundlagen unseres Zusammenlebens und Zusammenarbeitens mittelfristig gesund erhalten bleiben. Andreas Merx

— Der Autor ist Vorsitzender der Internationalen Gesellschaft für Diversity Management (idm e. V.)
Foto: Inka Junge
Erschienen im Tagesspiegel am 14.11.2019