1700 Jahre Jüdisches Leben

Smicha und Vorurteil

Wie ein Berliner Mädchen das Rabbinat aufmischte und Jüdinnen weltweit bis heute inspiriert

Von Ola Lebedowicz

Schon der Titel war eine Provokation. „Kann die Frau das rabbinische Amt bekleiden?“, fragte eine junge Studentin der Berliner Hochschule für die Wissenschaft des Judentums in ihrer Abschlussarbeit. Es war Juni 1930, die Bürgerinnen in Deutschland feierten ihr erst kürzlich erkämpftes Wahlrecht und Regina Jonas, 28, hatte nur ein einziges Ziel vor Augen: Sie wollte Rabbinerin werden.

Ausgerechnet das Mädchen, das in bescheidenen Verhältnissen im Berliner Scheunenviertel aufwuchs, Tür an Tür mit Bettlern, Kriminellen und Prostituierten, zerlegte auf 88 Seiten halachische Werke, wies ungeniert auf die Unzulänglichkeiten großer Rabbiner hin, um letztlich festzustellen, dass „ausser Vorurteil“ wenig gegen Frauen im Rabbinat spräche. Bahnbrechend – was trieb sie an? „Ich liebe diesen Beruf “, schrieb Regina Jonas. Fünfeinhalb Jahre später ging ihr Herzenswunsch in Erfüllung: Sie wurde Rabbinerin, die erste weltweit.

„Diese Frau war unglaublich“, sagt Irene Muzas Calpe. Die 47-Jährige kommt aus Barcelona und macht gerade ihre Rabbinerausbildung am Potsdamer Zacharias Frankel College. Sie kann sich noch gut daran erinnern, als sie vor knapp zehn Jahren eine Predigt für ihre Community in Spanien vorbereiten musste und zufällig auf Regina Jonas stieß, ihren beeindruckenden Werdegang und ihr tragisches Ende. „Sie hätte vor der Shoah fliehen können, wie viele ihrer Amtskollegen.“ Aber sie blieb und predigte im Konzentrationslager weiter, bis sie 1944 in Auschwitz ermordet wurde. „Sie ist eine Inspiration“, sagt Muzas Calpe, die aktuell ihre Masterarbeit schreibt. Wenn alles nach Plan läuft, wird sie im kommenden Oktober, nach fünfjähriger Vorbereitung, in Jonas’ Fußstapfen treten, als Masorti-Rabbinerin.

Masorti bedeutet Tradition und bildet neben der orthodoxen und liberalen die dritte, konservative Strömung des Judentums. Worin die Unterschiede bestehen, erklärt Sandra Anusiewicz-Baer, die das Frankel-College leitet. „Im Englischen“, sagt sie augenzwinkernd, „gibt es den schönen Spruch: crazy, hazy, lazy.“ Die Orthodoxen sind die Verrückten, die es mit den Gesetzen gern auf die Spitze treiben. Die Liberalen sind die Faulen, die Schwieriges beiseiteschieben. Irgendwo dazwischen stehen die Masorti-Juden, daher „hazy“, also verschwommen.
Regina Jonas vermutlich nach 1939.
Regina Jonas vermutlich nach 1939.
Frauen, die Rabbinerinnen werden möchten, können in Deutschland an dem liberal ausgerichteten Abraham-Geiger-Kolleg oder am konservativen Frankel-College studieren. Beide Ausbildungsstätten sind seit diesem Sommer im neuen „Europäischen Zentrum für Jüdische Gelehrsamkeit“ in Potsdam beheimatet. Derzeit gibt es rund 20 Rabbinerinnen, die hierzulande tätig sind, oder ihre Smicha (Ordination) hier erhalten haben. Weltweit sind es bereits Hunderte. Seit 2009 gibt es mit Sara Hurwitz sogar die erste orthodoxe Rabbinerin. Immer mehr Frauen, so Anusiewicz-Baer, würden sich für diesen Beruf interessieren. „Es ist fast schon ein Trend“, sagt sie.

Am Zacharias Frankel-College sind neben Irene Muzas Calpe drei weitere Studentinnen dabei – und vier Männer. Schneiden weibliche Absolventinnen besser ab? „Nicht unbedingt“, sagt Anusiewicz-Baer. Besonders am Anfang des Frauenrabbinats hätten sie es schwer gehabt. Über Jahrhunderte waren Jüdinnen von der Tradition des Talmudstudiums ausgeschlossen. „Das aufzuholen, war ein enormer Kraftakt“, sagt Anusiewicz-Baer.

Auch heute ist das Programm durchaus ambitioniert. Ein Abschluss in Jüdischer Theologie reicht nicht aus, um eine Masorti-Rabbinerin zu werden. Zusätzlich zu der Masterarbeit werden Studierende über 25 Talmudseiten mündlich geprüft. Keine leichte Aufgabe, denn die Texte sind auf Aramäisch und Hebräisch verfasst und mit unzähligen Abkürzungen und Fachtermini gespickt. Nur wer sauber vorlesen, übersetzen und die Zwischenüberlegungen wiedergeben kann, bekommt den Titel.

Irene Muzas Calpe bereitet sich auf die Prüfung vor. Ihre Woche ist straff durchorganisiert. Von montags bis mittwochs besucht sie Seminare in jüdischer Theologie an der Uni, donnerstags und freitags studiert sie Talmud und Halacha (jüdisches Recht) im Beit Midrash, einem Lehrhaus. Dabei waren ihre Eltern kein bisschen religiös, Spanier waren in der Franco-Diktatur entweder katholisch oder säkular. Wie kam sie denn bloß auf die Idee, Rabbinerin zu werden? „Ich fühlte mich schon immer von jüdischer Tradition angezogen“, erzählt sie. Mit Ende 20 entdeckt sie, dass ihre demenzkranke Oma offenbar jüdische Wurzeln hatte. Sie taucht tiefer in die Familiengeschichte ein, lernt Hebräisch, besucht eine Synagoge, konvertiert und kommt schließlich zum Studium nach Berlin.

Dass immer mehr Frauen in das Rabbinat vordringen, hat auch eine Kehrseite: Mit der Feminisierung sinkt das Ansehen. „Der Beruf wird abgewertet“, sagt Anusiewicz-Baer. „Das können wir gut in den liberalen Strömungen in Amerika beobachten, wo immer weniger Männer Rabbiner werden wollen.“

Vor allem in Deutschland gibt es ein weiteres Problem: Rabbinerinnen haben hier nach dem Abschluss leider wenig Chancen, aktiv zu wirken. In vielen Einheitsgemeinden werden sie einfach abgelehnt. Masorti ist zwar egalitär, Frauen sind gleichberechtigt. Inwieweit sich dieser Wandel aber emotional in der gesamten jüdischen Gemeinschaft vollzogen hat, steht auf einem anderen Blatt.

Das sei das Tragische daran, sagt Irene Muzas Calpe. „Trotz Regina Jonas müssen Frauen noch wahnsinnig viel Überzeugungsarbeit leisten.“
Fotos: Ri_Ya/Pixabay, Stiftung Neue Synagoge Berlin/Centrum Judaicum
Erschienen im Tagesspiegel am 11.12.2021