1700 Jahre Jüdisches Leben

Zweigniederlassung

Am Montag beginnt das Sukkot, das Laubhüttenfest – dieses Jahr ganz groß, in XXL. Überall in Deutschland wird es dazu Aktionen geben, auch im Berliner Nikolaiviertel

Von Udo Badelt

Hier also wird sie stehen, die Sukka, die Laubhütte. Noch ist nicht viel zu sehen: ein begrünter Innenhof inmitten niedrigen Plattenbauten, schattenspendende Bäume, ein paar spielende Kinder. Wir stehen im Zentrum Berlins, im Nikolaiviertel. Kommende Woche wird sich die Szenerie ändern, dann schmückt eine hölzerne Konstruktion den Hof. Sie wird an einer Seite offen sein, ein Dach aus Zweigen und Laub haben, so dass die Sterne sichtbar sind – und man kann in ihr essen, trinken, singen, feiern. „Ich freue mich sehr, dass wir Teil dieser Aktion sind“, erklärt Ella Nilova, Leiterin des Janusz-Korczak-Hauses in der Rathausstraße.

Mit „dieser Aktion“ meint sie Sukkot XXL: Zum diesjährigen jüdischen Laubhüttenfest vom 20. bis 27. September werden überall in Deutschland rund 40 Sukkot (der hebräische Plural von Sukka) im öffentlichen Raum aufgestellt, als Teil des Jubiläumsjahres „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“, zu dem der Tagesspiegel übers Jahr verteilt vier Mal Sonderseiten veröffentlicht. Der Verein „321“, der die Feierlichkeiten organisiert, stellt den Trägern die Hütten als Bausatz in drei verschiedenen Größen zur Verfügung.

Erinnert wird damit an den Auszug der Israeliten aus Ägypten

Sukkot ist, neben Pessach und dem Wochenfest Schawuot, das dritte große Wallfahrtsfest im Judentum. Seine Wurzeln gehen zurück auf die im Schemot, dem zweiten Buch Mose geschilderte Wüstenwanderung der Israeliten nach ihrem Auszug aus Ägypten. 40 Jahre sollen sie das Areal zwischen dem Nil und Kanaan, wo heute Israel und die palästinensischen Gebiete liegen, durchzogen haben. „Eigentlich ist die Distanz nicht so groß, aber wir brauchten 40 Jahre, um in der Wüste ein Volk zu werden“, erklärt Ella Nilova schmunzelnd. Moses‘ Aufenthalt von zwei Mal 40 Tagen auf dem Berg Sinai, wo er die zehn Gebote durch Gott empfing, der Tanz ums Goldene Kalb – all das soll sich, so die Tora, während dieser Zeit ereignet haben. Die Israeliten waren ständig auf Wanderschaft und brauchten mobile, tragbare Behausungen. Auch wenn es sich historisch vermutlich um Zelte handelte (der Vorläufer des Jerusalemer Tempels war der Mischkan, die Stiftshütte, ein Zelt-Heiligtum), entwickelte sich daraus später die Tradition, an die Wüstenzeit zu erinnern, indem man sieben Tage in einer selbstgebauten Laubhütte wohnt und, sofern es das Wetter erlaubt, auch schläft. Die Bedeutung von Sukkot hat sich im Laufe der Jahrtausende verschoben, es nahm zusätzlich den Charakter eines Erntedankfests an und ist heute, vor allem für Kinder, auch ein großes Abenteuer.

„In Israel stehen dann überall, wo es der Platz erlaubt, Laubhütten: auf Balkonen, Höfen, Parkplätzen, Dächern. Nicht nur an Orten, wo Religion allgegenwärtig ist, wie in Jerusalem, sondern auch in Tel Aviv“, erzählt Ella Nilova. Schon das Aufbauen sei ein großer Spaß, und erst recht das Dekorieren, etwa mit bunten Tüchern oder mit den Shiv‘at ha-minim („Sieben Arten“), landwirtschaftlichen Produkten, die die hebräische Bibel als konstitutiv für das Land Israel ansieht, darunter Gerste, Weinstock oder Honig.
Gespannt. Ella Nilova, Leiterin des Janusz-Korczak-Hauses, an der Stelle, wo die Laubhütte stehen wird.
Gespannt. Ella Nilova, Leiterin des Janusz-Korczak-Hauses, an der Stelle, wo die Laubhütte stehen wird.
In nicht-jüdischen Ländern wie Deutschland ist es natürlich deutlich komplizierter, eine Laubhütte aufzustellen, man braucht eine Genehmigung der Hausverwaltung, auch die Nachbarn müssen mitspielen. Zumindest die jüdischen Gemeinden hierzulande feiern das Fest aber jedes Jahr mit einer Laubhütte, in Berlin steht dann etwa ein Exemplar auf dem Gelände der orthodoxen Synagoge in der Joachimsthaler Straße. Dazu gesellen sich dieses Jahr im Rahmen von Sukkot XXL noch eine Sukka im Jüdischen Museum – und eben die im Nikolaiviertel.

Das Janusz-Korczak-Haus ist die Berliner Dependance der gleichnamigen Akademie in München. Janusz Korczak ist heute vor allem als Gründer und Leiter des Warschauer Waisenhauses bekannt, der mit rund 200 Kinder in Treblinka in den Tod ging, obwohl er persönlich nicht von Deportation bedroht war. Allerdings verdrängt diese Geschichte, dass Korczak noch viel mehr war, nämlich Kinderbuchautor, Erzieher, Architekt, Fundraiser, Manager, Kinderarzt, Pädagoge, Radiojournalist. „Er war in jeder Hinsicht ein Multitasker“, erklärt Ella Nilova, „der Kinder als Persönlichkeiten ansah, denen man den gleichen Respekt wie Erwachsenen entgegenbringen sollte.“ Der Pianist Wladyslaw Szpilman wurde damals Zeuge, wie die Waisen deportiert wurden, und erinnerte sich später: „Lange Jahre seines Lebens hatte Korczak mit Kindern verbracht und auch jetzt, auf dem letzten Weg, wollte er sie nicht allein lassen. Er wollte es ihnen leichter machen. Sie würden aufs Land fahren, ein Grund zur Freude, erklärte er ihnen und ordnete an, sich festtäglich zu kleiden. Und so hübsch herausgeputzt, in fröhlicher Stimmung, traten sie paarweise auf dem Hof an.“
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Sukkot XXL 2021
In Korczaks Geist wurde 2009 die nach ihm benannte Akademie gegründet, als Bildungsstätte für Jugendliche und Erwachsene, die die jüdischen Gemeinschaften stärken, Berührungsängste zum Judentum abbauen und natürlich auch Antisemitismus entgegenwirken will. Ella Nilova, 2004 aus der Ukraine nach Berlin gekommen, hat das Haus in Berlin 2014 gegründet. Schwerpunkt ihrer Arbeit ist die Bildungsstätte J-ArtEck für jüdische Jugendliche, wobei das „J“ für Janusz, Jugend und Juden steht. Zum Programm gehören Literaturwerkstätten, ein jährliches Camp in Brandenburg oder ein Austausch von Pädagogen und Pädagoginnen.

Man kann sich gut vorstellen, dass die Laubhütte im Hof von den Jugendlichen als Erlebnisort angenommen wird. Geplant sind ein Abend mit dem Neuköllner Projekt „Shalom Rollberg“, ein Workshop, in dem die Arba’a minim („vier Arten“) gebunden werden, ein Strauß aus vier Pflanzen, die traditionell zu Sukkot in der Synagoge getragen werden – und die Feier der Hawdala, die das Ende des Schabbat markiert.

— Die Laubhütte im Nikolaiviertel kann besichtigt werden, mehr Informationen: Tel. 89 99 65 71 und online: sukkotxxl.de
Fotos: Annette Riedl/dpa, Kitty Kleist-Heinrich
Erschienen im Tagesspiegel am 17.09.2021