Flucht, Vertreibung, Versöhnung

Endlich hört jemand zu

Die Bibliothek und das Zeitzeugenarchiv vertiefen die ständige Ausstellung – und laden zum Dialog ein

Von Rolf Brockschmidt

„In Wittenborn in Mecklenburg, da wurden wir von der Roten Armee überholt, da nahmen sie uns die Pferde ab und mussten alles da lassen, so sind wir alles los geworden, Betten und Wäsche, Strümpfe und Schuhe. Wir hatten bloß noch das Hemd was wir anhatten. Wenn Mutter wusch, hatten wir keins an, Du kannst Dir vorstellen, wie Mutter hierunter gelitten hat“, schrieb Hermann Zahn am 24. November 1945 seiner Tochter in Hessen, nachdem er aus der Nähe von Stettin ins vorpommersche Dorf Sandkrug geflohen war. Die Briefe, in denen er besonders das Flüchtlingselend der Frauen beschreibt, übergab die Enkelin dem Dokumentationszentrum Flucht, Vertreibung, Versöhnung. Zahns Augenzeugenbericht ist eine von bislang 700 Lebensgeschichten, die dort im Zeitzeugenarchiv aufbewahrt und zugänglich gemacht werden.

Wer den Rundgang durch die Dauerausstellung erlebt hat, kann in der großen Bibliothek mit Blick auf den Askanischen Platz und die Ruine des Anhalter Bahnhofs seine Eindrücke vertiefen. Zeitzeugenarchiv und Bibliothek mit 35 000 Bänden teilen sich einen gemeinsamen Lesesaal. Ein Drittel der Bücher befasst sich mit Zwangsmigration weltweit, dieser Bereich wird ausgebaut. Sammlungskern sind Werke, die sich mit Flucht und Vertreibung der deutschen Bevölkerung beschäftigen. Einen bedeutenden Anteil hat der Altbestand der Stiftung Deutschlandhaus, darunter auch viel „graue Literatur“, erklärt Nils Köhler, Bereichsleiter Dokumentation & Forschung. Darunter versteht man Schriften ohne ISBN-Nummer, kleine Auflagen aus Heimatkreisen, Ortschroniken, selbst gemachte Broschüren. Köhler: „Das ist ein Wissensfundus aus der privaten Heimatforschung, der sonst nicht mehr zugänglich wäre. Diese Dinge wurden in den sechziger Jahren hier im Haus gesammelt.“
Aber alle diese Zeitzeugenberichte müssen wissenschaftlich überprüft werden, die Quellen sind natürlich subjektiv. So habe eine Frau von einem Schiff aus sehr eindrücklich den Bombenangriff auf Swinemünde am 12. März 1945 beschrieben. Der Angriff war aber nicht nachts, wie sie schreibt, sondern tagsüber. „Was tun? Wo lag das Schiff? Was hat sie gesehen? Sind deswegen die anderen Schilderungen von ihr entwertet? Was ist plausibel, was nicht?“, fragt Köhler. Persönlichen Aufzeichnungen wie diese könnten größere Zusammenhänge verdeutlichen. Ein Archivar und zwei wissenschaftliche Mitarbeiter prüfen die Berichte, geben den Angehörigen Zwischenbescheide, fragen nach. Zu jeder Einsendung gibt es eine Einordnung und eine Verschlagwortung. „Der heutige Leser muss diese Zeitzeugnisse verstehen, daher müssen wir sie erklären“, sagt Köhler.

Die Menschen freuten sich, wenn man nachfrage. „Viele sagen: Mir hat noch nie jemand zugehört, das will ja auch keiner wissen“, berichtet Köhler. Der Tenor sei: Nach dem Krieg war keine Zeit, darüber zu reden, und jetzt interessiert es keinen mehr. Für das Dokumentationszentrum sind diese Originaltöne aber wichtige Quellen, wenn auch subjektive. Zeitzeugen könnten amtliche Quellen ergänzen, denn Flucht sei eine Extremsituation, in der die Bürokratie als Chronist oft versagen würde.

Das Archiv versteht sich als ein Angebot an Menschen, die Geschichten mit sich herumtragen. Hier werden Erinnerungen dauerhaft bewahrt. Es ist darüber hinaus ein Ort für Wissenschaft und interessierte Öffentlichkeit, Informationen zu vertiefen. Die Interviews stehen als Videos oder auch nur als Audiodatei zur Verfügung, sortiert nach Alter und Herkunftsgebieten, um exemplarisch einen Blick in das Schicksal der Geflüchteten zu ermöglichen. Hier findet man ebenso Zugang zu verschiedenen Datenbanken, um der eigenen Familiengeschichte nachzuspüren.
In den 90er Jahren schrieben viele Frauen ihre Erinnerungen auf, jetzt schildern die noch lebenden Kriegskinder und Kriegsjugendliche ihre Erlebnisse. Aber man möchte nicht im 20. Jahrhundert verharren. Bei einem Aufruf zu Fluchterinnerungen 2017 stammten zwar 95 Prozent der Einsendungen von Deutschen. Aber es meldeten sich auch „Boatpeople“ aus Vietnam und ehemalige Flüchtlinge aus Bosnien, die im Zuge der Jugoslawienkriege nach Deutschland gekommen waren. Sie sind auch in der Dauerausstellung als Opfer von Zwangsmigration vertreten. Die „Boatpeople“ erzählten gerne über ihre Ankunft in Deutschland, „sie haben ihren Platz hier gefunden und der Staat hat ihnen damals ganz besondere Angebote gemacht. Das waren oftmals Erfolgsgeschichten“, sagt Köhler. Viele Bosnier seien inzwischen zurückgegangen, aber viele auch geblieben. Die Interviews mit Zeitzeugen böten sich in der Regel in der zweiten Lebenshälfte an, wenn die Menschen Bilanz zögen. Auf Flüchtlinge der Gegenwart müsse man aktuell aber anders zugehen.

Misserfolge in der Integration hätten sich immer dann eingestellt, wenn man von Seiten des Staates nicht anerkannt habe, dass diese Menschen hierbleiben wollen. Auch das Arbeitsverbot habe in der Vergangenheit problematische Folgen gehabt, sagt Köhler.

Dauerausstellung und Zeitzeugenarchiv bieten die Möglichkeit, das Thema „Flucht und Vertreibung durch Zwangsmigration“ neu zu betrachten, aktuelle Bezüge zur eigenen Biografie herzustellen und Kontakte zu den Kreisen von Geflüchteten aufzubauen. „Dialogisches Erinnern“ könnte ein Weg sein, verschiedene Gruppen der Gesellschaft mit ähnlichen Erfahrungen miteinander ins Gespräch zu bringen. Entsprechende Veranstaltungen will das Dokumentationszentrum in Zukunft anbieten.
Foto: Michael Gröteke © Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung
Erschienen im Tagesspiegel am 19.06.2021