Future Mobility 2021

Mobil trotz Corona. Aber allein

Die Pandemie hat das MOBILITÄTSVERHALTEN verändert. Busse, Bahnen und das Flugzeug werden gemieden, Auto, Fahrrad und Roller erleben eine Renaissance. Wie nachhaltig ist der Wandel?

Von Jutta Maier und Henrik Mortsiefer

Vor genau einem Jahr, am 5. Juni 2020, schien das Schlimmste hinter dem deutschen Verkehrssektor zu liegen. Der erste Corona-Lockdown löste sich, Straßen-, Schienen- und Luftverkehr kamen langsam wieder in Bewegung, der Sommer versprach Erleichterungen für alle. Doch das war eine trügerische Hoffnung. Im Herbst und Winter baute sich eine weitere Coronawelle auf, die Mobilität musste erneut massiv eingeschränkt werden. Bis heute haben sich der Luft- und Schienenverkehr nicht wirklich erholt.

Mitte Mai 2021 lag der innerdeutsche Flugverkehr nach Daten des Statistischen Bundesamtes noch um 92 Prozent unter dem Niveau des Jahres 2019. Der Schienenverkehr sackte um 58 Prozent ab, der Straßenverkehr um 21 Prozent. Die Pandemie hat die Mobilität der Bundesbürger nicht nur eingeschränkt, sondern womöglich auch nachhaltig strukturell verändert.

So war schon vor einem Jahr die Automobilindustrie gerne bereit, den vergleichsweise moderaten Rückgang des automobilen Individualverkehrs als eine „Renaissance des Autos“ zu interpretieren. Tatsächlich wählten viele Menschen, die die Möglichkeit hatten, in den gefährlichsten Coronazeiten das eigene Auto, statt in Busse, Bahnen oder Flugzeuge zu steigen. Auch das Carsharing verlor Kunden, weil sich viele im eigenen Auto sicherer vor Covid-19-Infektionen fühlten. Und viele sind dabei geblieben, wollen sich sogar ein neues Auto kaufen, häufig ein elektrisches, wie jüngste Studien von McKinsey oder EY zeigen.

Ist die Post-Corona-Zeit tatsächlich eine neue Auto-Zeit? Die Betreiber des öffentlichen Personennahverkehrs sehen das erwartungsgemäß anders. Mit ihrer Kampagne #besserweiter werben sie für ein Comeback von Bussen und Bahnen, die auch während der Coronakrise ohne Unterbrechung unterwegs waren – allerdings häufig ohne Fahrgäste. Die Infektionsgefahr sei im ÖPNV nicht höher als im Individualverkehr, belegte kürzlich eine Studie im Auftrag der Länder und des Verbands der Verkehrsunternehmen VDV.
Wieder im Trend. Wie Fahrrad und Auto werden auch die Roller wieder mehr genutzt. Zwischenzeitlich hatten Anbieter das Angebot eingefroren, jetzt floriert es wieder.
Wieder im Trend. Wie Fahrrad und Auto werden auch die Roller wieder mehr genutzt. Zwischenzeitlich hatten Anbieter das Angebot eingefroren, jetzt floriert es wieder.
Doch die wirtschaftliche Situation des ÖPNV ist wegen der Einnahmeausfälle besorgniserregend. Damit der schienengebundene Nah- und Fernverkehr durchhält, muss der Steuerzahler weiterhelfen. Noch vor der Sommerpause soll der Rettungsschirm für den ÖPNV erweitert werden, nach 2,5 Milliarden Euro, die der Bund schon 2020 zusätzlich zur Verfügung stellte. Zwei weitere Milliarden hält der VDV im laufenden Jahr für notwendig, eine vom Bund und eine von den Ländern. Damit nicht genug, der Bund steht auch bei der Deutschen Bahn in der Pflicht. Der DB greift der Eigentümer mit rund zwei Milliarden Euro Eigenkapital unter die Arme sowie einer Entlastung bei den Trassenpreisen im Fern- und Güterverkehr von bis zu 98 Prozent.

Ob sich Busse, Trams, Straßenbahnen, Regional- und Fernzüge nach dem Abklingen der Pandemie wieder füllen, bleibt aber ungewiss. Auch weiß man noch nicht, ob Geschäftsreisende, die auf Zoom-Calls und digitale Konferenzformate zurückgreifen mussten, wieder in den Flieger steigen werden. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass Lufthansa und Co. dauerhaft ohne einen Teil dieser wichtigen Kunden auskommen müssen.

Eindeutiger lässt sich ein Corona-Mobilitätstrend in den Städten ablesen: Die Menschen fahren mehr Fahrrad. Das hat viel mit den Pop-up-Radwegen zu tun. Die Idee aus Bogotá und New York fand weltweit Nachahmer, viele Städte wandelten eine Fahrbahnspur oder einen Parkstreifen in solche provisorischen Radstreifen um. Das lag nahe, waren doch die Straßen zunächst wie leergefegt, während es gleichzeitig das Bedürfnis gab, statt in die Bahn aufs Rad zu steigen. Inzwischen wurden viele der Pop-up-Radwege in dauerhafte Infrastruktur umgewandelt, und es kommen immer neue hinzu.

Einer Studie zufolge waren es tatsächlich die Pop-up-Radwege, die zu deutlich mehr Radverkehr geführt haben. Sebastian Kraus und Nicolas Koch vom Berliner Klimaforschungsinstitut MCC (Mercator Research Institute on Global Commons and Climate Change) haben die Daten von 736 Fahrradzählstationen in 106 europäischen Städten ausgewertet. Außerdem flossen die Daten angekündigter oder abgeschlossener Bauarbeiten für Pop-up-Radwege ein. Dann verglichen die Wissenschaftler die Werte mit Städten, die keine provisorische Radinfrastruktur einrichteten. Das Ergebnis: Innerhalb von vier Monaten wurden je Stadt im Schnitt 11,5 Kilometer Pop-up-Bikelanes geschaffen– was zu elf bis 48 Prozent mehr Radverkehr führte. Sollte die neue Leidenschaft fürs Radeln anhalten, könnte die neue Infrastruktur den Forschern zufolge bares Geld sparen: Die positiven Gesundheitseffekte berechnen sie für die untersuchten Städte mit jährlich von einer bis sieben Billionen Dollar.
ANZEIGE

Aral pulse
Fahrräder waren im Sommer vergangenen Jahres schwer zu kriegen, die Lager der Händler wie leergefegt. Das hatte nicht nur mit der stark gestiegenen Nachfrage, sondern auch mit gestörten Lieferketten infolge der Pandemie zu tun. Die Verkaufszahlen zeigen das dynamische Wachstum: 2020 stieg der Absatz mit rund fünf Millionen verkauften Rädern um knapp 17 Prozent. Besonders E-Bikes, mit denen sich auch längere Strecken einfach zurücklegen lassen, werden immer beliebter: Ihr Anteil liegt inzwischen bei knapp 39 Prozent aller verkauften Räder, 2020 wurden fast doppelt so viele E-Bikes verkauft wie im Vorjahr. Die Fahrradbranche geht davon aus, dass der Run auf die begehrte Ware auch in diesem Jahr anhält.

Vom Rad zum Roller: Den 2019 gestarteten Boom der elektrischen Sharing-Tretroller konnte die Pandemie nur vorübergehend stoppen. Nachdem viele Anbieter – vor allem auch wegen der ausbleibenden Touristen – ihr Angebot einfroren, rollt die Welle inzwischen wieder. Zwar liegen die Umsätze noch nicht wieder auf Vorkrisenniveau, doch das Schlimmste scheint überstanden zu sein: Mit Bolt ist ein neuer Wettbewerber auf dem deutschen Markt, und auch Investorengeld fließt schon wieder in die Expansion der Unternehmen.

Allerdings müssen die Anbieter mit einer schärferen Regulierung seitens der Städte rechnen: Sie wollen die Kontrolle über das Chaos auf den Straßen zurückerlangen. Berlin etwa plant eine Genehmigungspflicht für Roller und Leihräder. Außerdem sollen die Anbieter dazu gebracht werden, ihre Flotte nicht nur im attraktiven Stadtzentrum, sondern auch in Randbezirken vorzuhalten.
Fotos: Unsplash/Creative Christians; imago images/Westend61
Erschienen im Tagesspiegel am 05.06.2021