Wirtschaftsregion Berlin-Brandenburg

Im Nordwesten was Neues

Die historische Siemensstadt wird aus ihrem Dornröschenschlaf geweckt. Der Münchner Konzern plant hier ambitioniert: Klimafreundlich, nachhaltig und durchmischt soll das das Quartier werden – ein Stadtteil für alle

Von Christoph M. Kluge

Siemensstadt liegt im Bezirk Spandau und ist einer der ältesten Industriestandorte Deutschlands. An diesem Ort mit großer Geschichte plant der Konzern ein neues Stadtviertel, das Industrie, Gewerbe und Wohnen auf smarte Weise verbinden soll. Titel des Projekts: „Siemensstadt Square“. Es verspricht ein nachhaltiges, klimafreundliches Viertel für alle.

Das Gebiet umfasst insgesamt eine Fläche von etwa 73 Hektar. Bis 2030 sollen dort hochmoderne Bürogebäude für Start-ups und etablierte Unternehmen entstehen, aber auch Industriehallen und nicht zuletzt 2700 Wohnungen. Handel, Gastronomie und Forschung sollen ebenso Platz finden wie eine Grundschule, zwei Kindertagesstätten und mehrere soziale Einrichtungen.

„Die Ziele, die wir uns setzen, sind ambitioniert“, sagte Stefan Kögl, der Geschäftsführer der Projektentwicklungsgesellschaft. Das Bauvorhaben müsse in einem Bestandsareal mit laufender Produktion umgesetzt werden. Bei den Plänen spiele Nachhaltigkeit „in allen Bereichen“ eine wichtige Rolle. Ein Ziel sei zum Bespiel ein vollständig CO2-neutraler Betrieb. Dafür gebe es keine Standardlösung. Siemens wolle neue Wege gehen, dafür brauche man „umfassendes Know-how“ und müsse die Stadt Berlin ebenso einbeziehen wie die unmittelbaren Anlieger. „Die Grundlage dafür ist, dass wir das gemeinsam machen.“

Erneuerbare Energien sollen direkt vor Ort erzeugt und genutzt werden

Den Planungen zufolge sollen am Ende Bürogebäude mit insgesamt 420 000 Quadratmeter Baufläche den größten Teil der Gesamtfläche einnehmen, das entspricht 35 Prozent. 275000 Quadratmeter werden mit Wohngebäuden bebaut und 190000 Quadratmeter mit Produktionsanlagen. Erneuerbare Energien sollen direkt vor Ort erzeugt und dann genutzt werden. Vernetzte Gebäude mit intelligenten Systemen sollen die Energie sparsam verwalten, mithilfe eines genauen Monitorings. Ein Regenwassermanagement soll Außenräume mit kühlem Nass versorgen und gleichzeitig Starkregenrisiken reduzieren.

Die Gebäude selbst orientieren sich am Energieeffizienzstandard KfW-Effizienzhaus 55, dem zweithöchsten von der staatlichen KfW-Bank förderfähigen Standard. Dächer und Fassaden sollen zum großen Teil begrünt werden, um ein Aufheizen der Umgebung im Sommer zu verhindern und die Luftqualität zu verbessern. Ein Teil der unbebauten Flächen wird an das Land Berlin übertragen, das dort öffentliche Straßen und Plätze anlegt. Mitten durch das Areal verläuft die Nonnendammallee, die in Zukunft die Hauptverkehrsader bilden wird. Sie soll zum begrünten Boulevard werden und teilweise autofrei sein. Außerdem wird Siemensstadt Square an das Berliner Radfernwegenetz angeschlossen. Im August wurde der städtebauliche Rahmenvertrag für die Realisierung des neuen Areals unterzeichnet. Darin wurden die geplanten Flächen und deren Nutzung festgelegt. Unter anderem wurde darin geregelt, dass die Erdgeschosszonen öffentlich zugänglich sein und von Einzelhandel, Gastronomie, Kultur und sozialer Infrastruktur genutzt werden.
In eine grüne Zukunft. So stellt sich das Büro Robertneun Architekten den künftigen „Siemensstadt Square“ vor.
In eine grüne Zukunft. So stellt sich das Büro Robertneun Architekten den künftigen „Siemensstadt Square“ vor.
„Siemensstadt Square soll ein Stadtteil für alle werden“, sagt Kögel. Inklusivität sei eine zentrale Zielsetzung des Projekts, das Raum bieten soll zum Beispiel für Menschen mit Behinderungen oder ältere Menschen. Gleichzeitig werde das Konzept auch Innovation fördern. Moderne Technologie werde in einer Weise in das Leben der Menschen integriert, die ihren Alltag erleichtere, und „eine wirkliche Unterstützung bietet.“ Siemens werde dabei eigene Produkte einsetzen, dennoch handle es nicht um „eine Art Labor“ für Feldversuche, beteuerte der Manager. „Wir wollen aber auch zeigen, dass das ökonomisch funktioniert.“ Klimafreundliche und soziale Maßnahmen stünden der Wirtschaftlichkeit des Konzepts nicht entgegen, meint Kögl.

Der Konzern sieht sich in Spandau auch in historischer Verantwortung. Das Elektrotechnikunternehmen Siemens & Halske errichtete zum Ende des 19. Jahrhunderts einen Standort auf einem Brachland. Zwischen 1897 und 1900 erwarb die Firma insgesamt 21 Hektar Fläche zwischen Nonnendamm, Spree und Rohrdamm. Die Fläche lag damals vor den Toren der Hauptstadt, die etwa 1,8 Millionen Einwohner:innen hatte.

Mehrere Siemens-Betriebe, die zuvor im Stadtgebiet verteilt gewesen waren, siedelten sich nun im gemeinsam im Nordwesten an, darunter zum Beispiel die Siemens-Schuckertwerke, die für das Starkstromgeschäft zuständig waren. Durch Zukäufe wurde die Fläche der Siemensstadt nach dem Ersten Weltkrieg vergrößert auf über 200 Hektar.
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Ende der 1920er Jahre errichtete Siemens & Halske eine eigene S-Bahnstrecke ab dem Bahnhof Jungfernheide, die Siemensbahn. Etwa 90 000 Menschen beschäftigte Siemens zu dieser Zeit in Siemensstadt. Von denen nutzten etwa 17 000 diese S-Bahn, die im Fünf-Minuten-Takt verkehrte. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg fuhr die Siemensbahn weiter, betrieben von der Reichsbahn der DDR. 1980 wurde sie nach einem Streik stillgelegt. Das Land Berlin Siemens möchte die Strecke wiederbeleben. Ab 2026 soll die Bahn gebaut werden, drei Jahre später soll sie in Betrieb gehen.
            

Andere Großprojekte

Siemensstadt Square ist nicht das einzige ambitionierte Projekt im Nordwesten Berlins. Auf dem Gelände des ehemaligen Flughafens Tegel soll das komplett autofreie Schumacher-Quartier mit 5000 Wohnungen in Holzbauweise als Magnet auf Unternehmen verschiedener Branchen wirken. Die Tegel-Projekt GmbH rechnet mit einem Investitionsvolumen von acht Milliarden Euro für die ersten Abschnitte. 25 Prozent sollen aus öffentlichen Geldern kommen, 75 Prozent aus privaten Investitionen. Nördlich des ehemaligen Terminals A soll zudem mit der Urban Tech Republic ein Industriepark für Forschung, Entwicklung und Produktion entstehen.

Im Südwesten, zwischen Steglitz und Tempelhof, werden die Marienhöfe geplant – ein Areal mit unter anderem 730 Wohnungen, teils sozial gefördert. Die zehn Hektar Fläche sollen mit Wohn- und Gewerbegebäuden bebaut werden. Entstehen sollen etwa Co-Working-Flächen für Start-ups, außerdem klassische Büros, Einzelhandel, Unternehmen und Institutionen aus Bildung und Forschung. In einem sogenannten Handwerkerhaus sollen auf einer Nutzfläche von etwa 10 000 Quadratmetern Handwerksbetriebe zu subventionierten Mietpreisen unterkommen.

Im fast 120 Jahre alten Mercedes-Werk in Marienfelde planen Mercedes-Benz und Siemens eine voll digitalisierte Modellfabrik. Dort sollen künftig Elektroautos gebaut werden. Die beiden deutschen Konzerne arbeiten zusammen bei der Digitalisierung und Automatisierung der Automobilfertigung. Zum Einsatz kommen soll auch das digitale Ökosystem MO360 – eine smarte Datendrehscheibe, die in Echtzeit den Zustand einzelner Fahrzeuge in der Produktion überwacht. Solche Automatisierungslösungen sollen Fahrzeugherstellung energieeffizienter und flexibler machen.

Auch Google will in den kommenden Jahren einen hohen Millionenbetrag im Großraum Berlin investieren. Damit soll der Bau eines Rechenzentrums für die Google Cloud finanziert werden – Teil einer Gesamtinvestition von einer Milliarde Euro. Wo genau das Zentrum entsteht, ist noch nicht bekannt. cmk
Foto: Siemens
Erschienen im Tagesspiegel am 22.10.2021