Juden leben seit der Antike auf dem Gebiet, das heute Deutschland heißt. Erstmals erwähnt werden sie in Köln, das damals eine pulsierende Vielvölkerstadt war. Ein Besuch am Rhein
Von Udo Badelt
Das Wasser gurgelt und gluckst. Seit Vorzeiten wälzt es sich durch die Landschaft, gefühlt einen halben Kilometer breit. Jetzt, da es viel geschneit hat in den Alpen, wirkt der Rhein noch majestätischer als sonst. Der Strom, er ist Ursprung und Quelle aller Entwicklung, aller Geschichte und aller Geschichten hier in Köln. Am linken Ufer des Flusses, auf einem noch heute vorhandenen, hochwassersicheren Hügel an einem schon lange trockengefallenen Flussarm, legten die Römer einige Jahrzehnte vor Christi Geburt eine Siedlung an. Als Geburtsstadt der Aggripina, Gattin des Kaisers Claudius, wurde sie 50 n. Chr. zur Oppidum, zur Stadt erhoben. Sie hieß fortan CCAA (Colonia Claudia Ara Agrippinensium), aus dem sich einige sprachgeschichtliche Umschlingungen später das deutsche Wort „Köln“ entwickelte.
Roms Zivilisation reichte jahrhundertelang hierher. Für Forscher bietet das einen immensen Vorteil: Anders als bei den rechtsrheinischen germanischen Stämmen existieren zur Geschichte des römischen Flussufers Schriftzeugnisse. Nur deshalb wissen wir, dass in der CCAA Juden gelebt haben. Wenn 2021 „1700 Jahre jüdischen Lebens in Deutschland“ gefeiert werden, so ist das wahr und falsch zugleich. Falsch, weil es in der Antike natürlich kein „Deutschland“ gegeben hat. Falsch auch, weil die jüdische Geschichte der Region sicher nicht 321 begonnen hat. Wahr aber, weil aus dem Dunkel der Geschichte eine Quelle herausragt, die auf jenes Jahr datiert ist und die die Präsenz von Juden in der CCAA zweifelsfrei belegt.
Kaiser Konstantin gestattet in einem Edikt von 321 die Berufung von Juden in den Stadtrat – und zwar im gesamten Imperium Romanum. Es ist der älteste bekannte Beweis für die Existenz von Juden nördlich der Alpen. Wo der Text erlassen wurde, ist unbekannt, aber gerichtet ist er an die Kölner Stadtvertreter (decurionibus Agrippiniensibus), die sich zuvor mit einer entsprechenden Anfrage an den Herrscher gewandt hatten. Wie mit so vielen historischen Schriftstücken, die nicht das rettende Zeitalter des Buchdrucks erreicht haben, ist auch dieses nicht im Original erhalten, sondern nur, weil es immer und immer wieder abgeschrieben wurde. Der oströmische Kaiser Theodosius hat alle Gesetze, die von seinen Vorgängern seit Konstantin erlassen worden waren, im „Codex Theodosianus“ sammeln lassen, der 438 publiziert wurde. Das erwähnte Edikt steht im 16. und letzten Teil dieses selbst nur fragmentarisch überlieferten Codex, und die einzige erhaltene Abschrift davon – sie entstand im 6. Jahrhundert – befindet sich in der Biblioteca Apostolica Vaticana, der Vatikanischen Bibliothek in Rom.
Was für eine Stadt war Köln im 4. Jahrhundert? Eine trubelige, so viel ist sicher. Rund 50 000 Menschen sollen zu dieser Zeit dort gelebt haben, doch tatsächlich dürften sich viel mehr in den Straßen aufgehalten haben, es war wohl ein ständiges Kommen und Gehen. Der Hafen brachte Besucher, Händler, Legionäre und Veteranen. In Köln waren zwar direkt keine Garnisonen stationiert wie in Bonn, Neuss, Xanten oder Nimwegen, doch die Verwaltungszentrale der Provinz Germania inferior befand sich hier. Die Pax Romana war lange vorbei, die Grenze ständiger Bedrohung ausgesetzt. Konstantin selbst sah Rom nicht mehr als den Mittelpunkt des Reiches an und sollte nur neun Jahre nach dem Edikt von 321, im Jahr 330, seine prachtvolle neue Hauptstadt Konstantinopel eröffnen.
Roms Zivilisation reichte jahrhundertelang hierher. Für Forscher bietet das einen immensen Vorteil: Anders als bei den rechtsrheinischen germanischen Stämmen existieren zur Geschichte des römischen Flussufers Schriftzeugnisse. Nur deshalb wissen wir, dass in der CCAA Juden gelebt haben. Wenn 2021 „1700 Jahre jüdischen Lebens in Deutschland“ gefeiert werden, so ist das wahr und falsch zugleich. Falsch, weil es in der Antike natürlich kein „Deutschland“ gegeben hat. Falsch auch, weil die jüdische Geschichte der Region sicher nicht 321 begonnen hat. Wahr aber, weil aus dem Dunkel der Geschichte eine Quelle herausragt, die auf jenes Jahr datiert ist und die die Präsenz von Juden in der CCAA zweifelsfrei belegt.
Kaiser Konstantin gestattet in einem Edikt von 321 die Berufung von Juden in den Stadtrat – und zwar im gesamten Imperium Romanum. Es ist der älteste bekannte Beweis für die Existenz von Juden nördlich der Alpen. Wo der Text erlassen wurde, ist unbekannt, aber gerichtet ist er an die Kölner Stadtvertreter (decurionibus Agrippiniensibus), die sich zuvor mit einer entsprechenden Anfrage an den Herrscher gewandt hatten. Wie mit so vielen historischen Schriftstücken, die nicht das rettende Zeitalter des Buchdrucks erreicht haben, ist auch dieses nicht im Original erhalten, sondern nur, weil es immer und immer wieder abgeschrieben wurde. Der oströmische Kaiser Theodosius hat alle Gesetze, die von seinen Vorgängern seit Konstantin erlassen worden waren, im „Codex Theodosianus“ sammeln lassen, der 438 publiziert wurde. Das erwähnte Edikt steht im 16. und letzten Teil dieses selbst nur fragmentarisch überlieferten Codex, und die einzige erhaltene Abschrift davon – sie entstand im 6. Jahrhundert – befindet sich in der Biblioteca Apostolica Vaticana, der Vatikanischen Bibliothek in Rom.
Was für eine Stadt war Köln im 4. Jahrhundert? Eine trubelige, so viel ist sicher. Rund 50 000 Menschen sollen zu dieser Zeit dort gelebt haben, doch tatsächlich dürften sich viel mehr in den Straßen aufgehalten haben, es war wohl ein ständiges Kommen und Gehen. Der Hafen brachte Besucher, Händler, Legionäre und Veteranen. In Köln waren zwar direkt keine Garnisonen stationiert wie in Bonn, Neuss, Xanten oder Nimwegen, doch die Verwaltungszentrale der Provinz Germania inferior befand sich hier. Die Pax Romana war lange vorbei, die Grenze ständiger Bedrohung ausgesetzt. Konstantin selbst sah Rom nicht mehr als den Mittelpunkt des Reiches an und sollte nur neun Jahre nach dem Edikt von 321, im Jahr 330, seine prachtvolle neue Hauptstadt Konstantinopel eröffnen.
Auf dem Rathausplatz wird das Jüdische Viertel ausgegraben
Wie und auf welchen Wegen Juden ins Rheinland kamen, wissen wir nicht. „Es liegt nahe, dass es im Zuge von Truppenbewegungen geschah“, sagt Archäologe Thomas Otten. Er ist Direktor des noch zu eröffnenden Kölner Jüdischen Museums Miqua und hat sich viel mit den spärlichen Quellen befasst, die von jüdischem Leben nördlich der Alpen zeugen – und mit der Schwierigkeit, sie zu interpretieren. So kann im Grunde jedes alttestamentarische Motiv, das gefunden wird, jüdischen oder christlichen Ursprungs sein.
Vieles bleibt Spekulation, etwa der ganze Prozess der Auswanderung der Juden aus Judäa und der Beginn der Diaspora. „Das ist historisch unheimlich schwer zu fassen“, erklärt Otten. Begann es schon mit der Zerstörung des Jerusalemer Tempels im Jahr 70 oder erst mit dem Bar-Kochba-Aufstand der 130er Jahre? Was wir jedoch mit einiger Sicherheit sagen können: Die Juden, die damals am Rhein lebten, müssen vergleichsweise vermögend gewesen sein. Mit der Berufung in den Stadtrat waren Pflichten und Abgaben verbunden. Der Althistoriker Werner Eck, der die Buchreihe „Geschichte der Stadt Köln“ herausgibt und den ersten Band dazu verfasst hat, vermutet, dass sie Einkünfte aus Landwirtschaft bezogen. Und hier wird es interessant: Denn das berühmte Verbot, einem zunftgebundenen Gewerbe nachzugehen – weshalb viele Juden auf die Zinswirtschaft auswichen – ist kanonisches, also kirchliches Recht. Und damit viel späteren Datums. Im antiken Köln, und damit mutmaßlich auch an anderen Orten des Reiches, scheinen Juden relativ freie, gleichberechtigte Einwohner gewesen zu sein – ein Strang von unzähligen in der bunten Vielvölkerstadt Köln.
Thomas Otten setzt sich den Bauhelm auf. Es geht hinab in den Untergrund. Vor dem Kölner Rathaus, an der Straße Obermarspforten (die heute noch darauf verweist, dass sich hier in der antiken Stadt das „Tor des Mars“ befunden hat), liegt eine der interessantesten Ausgrabungsstätten in einer deutschen Innenstadt. Seit 2009 wird das mittelalterliche Judenviertel freigelegt, das um das Jahr 1000 entstand – also in deutlich nachantiker Zeit, aber auf teilweise römischen Grundmauern. 2024 soll hier das Museum Miqua (es hat leider einen sehr komplizierten Namen, offiziell heißt es „Miqua. LVR-Jüdisches Museum im Archäologischen Quartier Köln“, wobei LVR für Landschaftsverband Rheinland steht) eröffnen, an authentischem Ort. Staub hängt in der Luft, Arbeiter zerkleinern mit einem Presslufthammer letzte Reste eines Betonpfeilers aus den 50er Jahren. Die zentralen Bauteile des künftigen Museums, die Synagoge und die Mikwe – ein Ritualbad, das auch heute noch, wie es der Ritus vorschreibt, mit frischem Grundwasser gefüllt ist – sind schon freigelegt.
Wir blicken auf einen Abwasserkanal aus römischer Zeit, der zum Rhein führt, und in die Keller mittelalterlicher Wohnhäuser. Da steht der Ofen einer Bäckerei aus dem 19. Jahrhundert: 2000 Jahre Stadtgeschichte überlagern sich auf engstem Ort. „Christen und Juden lebten hier quasi Mauer an Mauer“, erklärt Thomas Otten. Dieses Viertel, so viel wird deutlich, war nie ein Getto. Gettos kennt das Mittelalter nicht, sie entstehen erst in der Renaissance. „Das Zusammenleben in diesem Quartier kann man sich eher wie in Chinatown vorstellen“, so Otten. Juden bildeten die Mehrheit, waren aber längst nicht unter sich. Vertrautheit, aber auch Konkurrenzdenken, Feindschaft bis hin zu Ritualmordlegenden – alles existierte nebeneinander. Bis es 1424 auseinanderflog. Nach mehreren Pogromen wurden die Juden „auf alle Ewigkeit“ aus der Stadt verbannt. Wir wissen heute, dass das nicht das Ende war, dass die Geschichte jüdischen Lebens in Köln und in ganz Deutschland weiterging. Erzählen wird sie auch eine Wanderausstellung des Miqua, die am 2. März in der Alten Synagoge in Essen eröffnet wird.
Vieles bleibt Spekulation, etwa der ganze Prozess der Auswanderung der Juden aus Judäa und der Beginn der Diaspora. „Das ist historisch unheimlich schwer zu fassen“, erklärt Otten. Begann es schon mit der Zerstörung des Jerusalemer Tempels im Jahr 70 oder erst mit dem Bar-Kochba-Aufstand der 130er Jahre? Was wir jedoch mit einiger Sicherheit sagen können: Die Juden, die damals am Rhein lebten, müssen vergleichsweise vermögend gewesen sein. Mit der Berufung in den Stadtrat waren Pflichten und Abgaben verbunden. Der Althistoriker Werner Eck, der die Buchreihe „Geschichte der Stadt Köln“ herausgibt und den ersten Band dazu verfasst hat, vermutet, dass sie Einkünfte aus Landwirtschaft bezogen. Und hier wird es interessant: Denn das berühmte Verbot, einem zunftgebundenen Gewerbe nachzugehen – weshalb viele Juden auf die Zinswirtschaft auswichen – ist kanonisches, also kirchliches Recht. Und damit viel späteren Datums. Im antiken Köln, und damit mutmaßlich auch an anderen Orten des Reiches, scheinen Juden relativ freie, gleichberechtigte Einwohner gewesen zu sein – ein Strang von unzähligen in der bunten Vielvölkerstadt Köln.
Thomas Otten setzt sich den Bauhelm auf. Es geht hinab in den Untergrund. Vor dem Kölner Rathaus, an der Straße Obermarspforten (die heute noch darauf verweist, dass sich hier in der antiken Stadt das „Tor des Mars“ befunden hat), liegt eine der interessantesten Ausgrabungsstätten in einer deutschen Innenstadt. Seit 2009 wird das mittelalterliche Judenviertel freigelegt, das um das Jahr 1000 entstand – also in deutlich nachantiker Zeit, aber auf teilweise römischen Grundmauern. 2024 soll hier das Museum Miqua (es hat leider einen sehr komplizierten Namen, offiziell heißt es „Miqua. LVR-Jüdisches Museum im Archäologischen Quartier Köln“, wobei LVR für Landschaftsverband Rheinland steht) eröffnen, an authentischem Ort. Staub hängt in der Luft, Arbeiter zerkleinern mit einem Presslufthammer letzte Reste eines Betonpfeilers aus den 50er Jahren. Die zentralen Bauteile des künftigen Museums, die Synagoge und die Mikwe – ein Ritualbad, das auch heute noch, wie es der Ritus vorschreibt, mit frischem Grundwasser gefüllt ist – sind schon freigelegt.
Wir blicken auf einen Abwasserkanal aus römischer Zeit, der zum Rhein führt, und in die Keller mittelalterlicher Wohnhäuser. Da steht der Ofen einer Bäckerei aus dem 19. Jahrhundert: 2000 Jahre Stadtgeschichte überlagern sich auf engstem Ort. „Christen und Juden lebten hier quasi Mauer an Mauer“, erklärt Thomas Otten. Dieses Viertel, so viel wird deutlich, war nie ein Getto. Gettos kennt das Mittelalter nicht, sie entstehen erst in der Renaissance. „Das Zusammenleben in diesem Quartier kann man sich eher wie in Chinatown vorstellen“, so Otten. Juden bildeten die Mehrheit, waren aber längst nicht unter sich. Vertrautheit, aber auch Konkurrenzdenken, Feindschaft bis hin zu Ritualmordlegenden – alles existierte nebeneinander. Bis es 1424 auseinanderflog. Nach mehreren Pogromen wurden die Juden „auf alle Ewigkeit“ aus der Stadt verbannt. Wir wissen heute, dass das nicht das Ende war, dass die Geschichte jüdischen Lebens in Köln und in ganz Deutschland weiterging. Erzählen wird sie auch eine Wanderausstellung des Miqua, die am 2. März in der Alten Synagoge in Essen eröffnet wird.
Nach der Gewalt ist vor der Gewalt
Judentum im Mittelalter – das war vor allem ein städtisches Phänomen und eine Epoche von Zuckerbrot und Peitsche
Das jüdische Mittelalter ist gegenüber dem christlichen quasi „verrutscht“: Es reicht, so die These des österreichischen Judaisten Kurt Schubert, von der Islamisierung des Orients durch die Araber im 7. bis zur Aufklärung in Europa im 17. und 18. Jahrhundert. In dieser Zeit spaltet sich das Diaspora-Judentum auf in die „Aschkenasim“, die in Nordfrankreich und im Rheinland siedeln und von dort nach Osteuropa ziehen, und die „Sephardim“, die unter der maurischen Herrschaft in Spanien eine relativ tolerante Blütezeit erleben.
Das jüdische Mittelalter ist gegenüber dem christlichen quasi „verrutscht“: Es reicht, so die These des österreichischen Judaisten Kurt Schubert, von der Islamisierung des Orients durch die Araber im 7. bis zur Aufklärung in Europa im 17. und 18. Jahrhundert. In dieser Zeit spaltet sich das Diaspora-Judentum auf in die „Aschkenasim“, die in Nordfrankreich und im Rheinland siedeln und von dort nach Osteuropa ziehen, und die „Sephardim“, die unter der maurischen Herrschaft in Spanien eine relativ tolerante Blütezeit erleben.
Der Rhein war für die Aschkenasim im Mittelalter eine der wichtigsten Regionen überhaupt, neben Köln existierten bedeutende Gemeinden in den „Schum“-Städten (das „Sch“ steht für Spira, also Speyer, das „U“ ist gleichbedeutend mit W für Worms, das „M“ steht für Mainz), die einen Verbund bildeten. Noch heute sind dort Überreste von Monumentalmikwen und Synagogen oder der Friedhof zu besichtigen. Außerrheinisch waren Regensburg oder Erfurt Zentren jüdischen Lebens. Judentum im Mittelalter – das war vor allem ein städtisches Phänomen.
Aber es war auch eine Epoche von Zuckerbrot und Peitsche. Die Stellung der Juden war stets prekär, Phasen relativer Ruhe und Sicherheit lösten sich ab mit Ausbrüchen von Bedrohung, Aggression und Ausgrenzung. Regelmäßig kam es zu brutalen Pogromen, sie gipfelten in den großen Pestpogromen von 1348/49, als auch der „Schwarze Tod“ auf seinem Höhepunkt war. Dass Pandemien von Viren oder Bakterien verursacht werden, wissen wir erst seit 200 Jahren, im Mittelalter war es bequemer, alles auf die jüdischen „Brunnenvergifter“ zu schieben. Das hatte für Christen ganz handfeste Vorteile. Die Frauenkirche am Nürnberger Hauptmarkt etwa – heute würde man das als „beste Citylage“ bezeichnen – wurde auf den Trümmern einer im Pestpogrom 1349 zerstörten Synagoge errichtet.
Immer, wenn die Gewalt überhand zu nehmen drohte, richteten die Autoritäten in Gestalt des Kaisers, Erzbischofs oder Stadtrats Schutzbriefe für Juden und Jüdinnen ein. Sogenannte Judenprivilegien (in Köln 1266, in Preußen noch so spät wie 1750) regelten detailliert, welche Freiheiten der Berufsausübung Juden hatten. „Die Möglichkeit der harten Konfrontation stand ihnen nicht zur Verfügung“, sagt Thomas Otten, Direktor des Jüdischen Museums Miqua in Köln. „Sie haben in Jahrhunderten Wege gefunden, sich in der Situation einzurichten.“
So widerwärtig der von Religion oder Gier getriebene mittelalterliche Judenhass auch war, so erscheint er doch nur als Prolog zum rassisch fundierten Antisemitismus, der Juden ab dem 19. Jahrhundert erwarten sollte. Udo Badelt
Aber es war auch eine Epoche von Zuckerbrot und Peitsche. Die Stellung der Juden war stets prekär, Phasen relativer Ruhe und Sicherheit lösten sich ab mit Ausbrüchen von Bedrohung, Aggression und Ausgrenzung. Regelmäßig kam es zu brutalen Pogromen, sie gipfelten in den großen Pestpogromen von 1348/49, als auch der „Schwarze Tod“ auf seinem Höhepunkt war. Dass Pandemien von Viren oder Bakterien verursacht werden, wissen wir erst seit 200 Jahren, im Mittelalter war es bequemer, alles auf die jüdischen „Brunnenvergifter“ zu schieben. Das hatte für Christen ganz handfeste Vorteile. Die Frauenkirche am Nürnberger Hauptmarkt etwa – heute würde man das als „beste Citylage“ bezeichnen – wurde auf den Trümmern einer im Pestpogrom 1349 zerstörten Synagoge errichtet.
Immer, wenn die Gewalt überhand zu nehmen drohte, richteten die Autoritäten in Gestalt des Kaisers, Erzbischofs oder Stadtrats Schutzbriefe für Juden und Jüdinnen ein. Sogenannte Judenprivilegien (in Köln 1266, in Preußen noch so spät wie 1750) regelten detailliert, welche Freiheiten der Berufsausübung Juden hatten. „Die Möglichkeit der harten Konfrontation stand ihnen nicht zur Verfügung“, sagt Thomas Otten, Direktor des Jüdischen Museums Miqua in Köln. „Sie haben in Jahrhunderten Wege gefunden, sich in der Situation einzurichten.“
So widerwärtig der von Religion oder Gier getriebene mittelalterliche Judenhass auch war, so erscheint er doch nur als Prolog zum rassisch fundierten Antisemitismus, der Juden ab dem 19. Jahrhundert erwarten sollte. Udo Badelt
Editorial
„Chai“ bedeutet lebendig
Der Blick in die Geschichte offenbart große Errungenschaften. Aber er kann auch unheimlich wehtun. Für das deutsch-jüdische Verhältnis gilt das ganz besonders. Der unbändige Judenhass im christlichen Abendland hat bereits im Mittelalter ganzen Gemeinden das Leben gekostet. Schon früh hatten Jüdinnen und Juden lernen müssen, ihre vielfältige Tradition und Religion vor Vernichtung zu schützen. Umso wichtiger ist es, genauer hinzuschauen.
Die folgenden vier Artikel sind ein Versuch – und eine Einladung –, das zu tun. Wir begeben uns ins Römische Reich. Aus dieser Zeit stammt der erste offizielle Nachweis jüdischen Lebens auf dem Gebiet des heutigen Deutschlands. Wir begegnen herausragenden jüdischen Persönlichkeiten und tauchen ein in die Berliner Salons des 19. Jahrhunderts. Anlass dafür ist das bundesweite Festjahr „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“, das von einem eigens dafür gegründeten Verein organisiert wird. Mehr als 1000 Veranstaltungen und Mitmachaktionen sollen, übers ganze Jahr verteilt, Interessierten jüdische Kultur näherbringen. Und Bewusstsein schaffen für antisemitische Vorurteile, die, so die Hoffnung, beim besseren Kennenlernen an Anziehungskraft verlieren.
Das Judentum in Deutschland ist mehr als Shoah. Es ist bunt, fröhlich und lebendig. Letzteres heißt auf Hebräisch übrigens „chai“. Aleksandra Lebedowicz
Die folgenden vier Artikel sind ein Versuch – und eine Einladung –, das zu tun. Wir begeben uns ins Römische Reich. Aus dieser Zeit stammt der erste offizielle Nachweis jüdischen Lebens auf dem Gebiet des heutigen Deutschlands. Wir begegnen herausragenden jüdischen Persönlichkeiten und tauchen ein in die Berliner Salons des 19. Jahrhunderts. Anlass dafür ist das bundesweite Festjahr „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“, das von einem eigens dafür gegründeten Verein organisiert wird. Mehr als 1000 Veranstaltungen und Mitmachaktionen sollen, übers ganze Jahr verteilt, Interessierten jüdische Kultur näherbringen. Und Bewusstsein schaffen für antisemitische Vorurteile, die, so die Hoffnung, beim besseren Kennenlernen an Anziehungskraft verlieren.
Das Judentum in Deutschland ist mehr als Shoah. Es ist bunt, fröhlich und lebendig. Letzteres heißt auf Hebräisch übrigens „chai“. Aleksandra Lebedowicz
Fotos: akg-image /Erich Lessing; Imago
Erschienen im Tagesspiegel am 19.02.2021
Erschienen im Tagesspiegel am 19.02.2021