1700 Jahre Jüdisches Leben

Gute Gesellschaft auf ungenierte Art

Man trifft sich beim „Thee“ und bildet sich: Wie jüdische Frauen um 1800 das Leben in Berlin veränderten

Von Dorothee Nolte

Warum, fragte sich der evangelische Theologe Friedrich Schleiermacher, gehen in Berlin die „jungen Gelehrten und Elegants“ so gerne in jüdische Häuser, um sich auszutauschen? Das, so schrieb er seiner Schwester Charlotte im Jahr 1798, sei eigentlich „sehr natürlich“. Denn: Die jüdischen Familien seien „die bei weitem reichsten bürgerlichen Familien hier, fast die einzigen, die ein offenes Haus halten.“ Bei ihnen könne man wegen ihrer internationalen Verbindungen Fremde von allen Ständen antreffen. „Wer also auf eine recht ungenierte Art gute Gesellschaft sehen will, lässt sich in solchen Häusern einführen.“

Im Übrigen hatte die Geselligkeit in jüdischen Häusern für den Theologen noch einen weiteren entscheidenden Vorzug: die Frauen. Während die jüdischen Männer nämlich „zu früh in den Handel gestürzt“ würden, seien die Frauen „sehr gebildet, wissen von allem zu sprechen und besitzen gewöhnlich eine oder die andre schöne Kunst in einem hohen Maße“.

Vermutlich hatte Schleiermacher hier vor allem Henriette Herz vor Augen – mit ihr, der schönen und wissenschaftlich interessierten Gattin des Arztes Markus Herz, war er eng befreundet. Aber auch andere Jüdinnen luden in den Jahren um 1800 regelmäßig zu „Thees“, „Soirées“ oder „Kränzchen“ ein. Dazu gehörten neben Henriette Herz und Rahel Levin auch weniger bekannte Namen wie Philippine Cohen, Sara und Marianne Meyer, Amalie Beer und Hitzel Fließ. Die Gastgeberinnen nannten ihre Geselligkeiten nicht „Salons“, weil man dieses Wort mit adligen Salons in Paris assoziierte. Die „Thees“ dagegen verstanden sich als eher informelle Zusammenkünfte.
Strahlend schön. Die Malerin Anna Dorothea Therbusch porträtierte Henriette Herz im Jahr 1778 als Hebe, die griechische Göttin der Jugend. Henriette Herz gilt als die erste Berliner jüdische Salonière.
Strahlend schön. Die Malerin Anna Dorothea Therbusch porträtierte Henriette Herz im Jahr 1778 als Hebe, die griechische Göttin der Jugend. Henriette Herz gilt als die erste Berliner jüdische Salonière.
Auch kulinarisch wurde nicht viel geboten. Aber hier fanden geistig interessierte Menschen eine zuvor und andernorts unübliche Mischung von Gästen: Männer, Frauen, Adlige, Bürgerliche, Diplomaten, Schauspielerinnen, Christen und Juden waren gleichermaßen willkommen. Man las sich Briefe und literarische Werke vor – Goethe und die Frühromantiker –, diskutierte über die neuesten Theateraufführungen und setzte sich auch mal ans Fortepiano oder spielte Karten. Erstaunt über diese Mischung schrieb der Dichter Jean Paul, als er 1801 nach Berlin kam: „Gelehrte, Juden, Offiziere, Geheime Räthe, Edelleute, kurz, alles was sich an anderen Orten (Weimar ausgenommen) die Hälse bricht, fällt einander um diese und lebt wenigstens freundlich an Thee- und Esstischen beisammen.“

Den ersten derart gemischten „Salon“ – die Bezeichnung hat sich später eingebürgert – gründete Henriette Herz um das Jahr 1780. Die Tochter des Arztes Benjamin de Lemos war, wie in jüdischen Familien damals üblich, sehr früh verheiratet worden. Ihr Mann Markus Herz hielt in ihrer gemeinsamen Wohnung in der Spandauer Straße 35 „philosophische Collegia“ ab, Vorträge für Männer, versteht sich. Henriette begann im Nebenzimmer ihre eigenen Gäste einzuladen – und mancher, der ursprünglich zu des Ehemanns Vorlesungen gekommen war, zog irgendwann die lockereren Zusammenkünfte bei Henriette vor, so etwa die jungen Humboldt-Brüder. Viele Salonbesucher, „Habitués“ genannt, waren mal hier, mal dort zu Gast, etwa in der Jägerstraße 54, wo Rahel Levin ab 1793 ins Haus ihrer Familie einlud – heute erinnert daran eine bronzene Gedenktafel. Sogar der preußische Prinz Louis Ferdinand kam in die Jägerstraße, seine Geliebte Pauline Wiesel war eine enge Freundin Rahels.

1806, mit dem Einmarsch Napoleons, endete die Glanzzeit des so genannten „Berliner jüdischen Salons“. Während der französischen Besatzung und der Befreiungskriege ging das heitere Lebensgefühl verloren, und sogar bei einigen ehemaligen Salon-Besuchern schlug die Stimmung ins Nationalistische und teilweise Antisemitische um. Henriette Herz und Rahel Levin traten zum Christentum über und trauerten den vergangenen Zeiten nach. Rahel führte allerdings mit ihrem späteren Ehemann Karl August Varnhagen in den 1820er Jahren einen „zweiten Salon“ in der Mauerstraße 36.

Neue Mischung: Adlige, Bürger, Christen und Juden

Auch heute mag der Gedanke an die „freie Geselligkeit“ (Schleiermacher) nostalgisch stimmen. „An der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert findet in den von Frauen geführten Berliner jüdischen Salons die Idee einer Symbiose zwischen Preußentum und Judentum, zwischen Judenemanzipation und Frauenemanzipation eine grandiose Verwirklichung“, schreibt Marie Haller-Nevermann in ihrem Buch „Berliner Klassik um 1800 und ihre Protagonisten“ (2018). Hannah Lotte Lund, Salon-Forscherin und Direktorin des Kleist-Museums in Frankfurt/ Oder, warnt jedoch vor „Legendenbildung“: Von einem jüdischen Salon als Institution könne man nicht sprechen, das werde dem Aufbruch-Charakter und dem vibrierenden kommunikativen Netzwerk, das da entstand, nicht gerecht. Die Legende deute aber auf die große Ausstrahlung des Phänomens auf spätere Generationen hin.

Hannah Arendt hat es in ihrer Arbeit über Rahel Varnhagen nüchtern interpretiert: „Die Berliner Ausnahmejuden in ihrer Jagd nach Bildung und Reichtum haben drei Jahrzehnte lang Glück gehabt. Der jüdische Salon, das immer wieder erträumte Idyll einer gemischten Geselligkeit, war das Produkt der zufälligen Konstellation in einer gesellschaftlichen Übergangsepoche.“ Für die zionistische Geschichtsschreibung sind die Salons sogar „der Beginn der Assimilation als Selbsttäuschung, die letztlich in die Shoah führte“, schreibt der Judaist Christoph Schulte (Potsdam).

Moses Mendelssohn jedenfalls, der aufgeklärte, gläubige Jude, hielt viel vom geselligen Austausch. Durch den „Umgang mit bedeutenden Menschen“ bilde man sich: Davon war er ebenso überzeugt wie Henriette Herz, Rahel Levin Varnhagen und Friedrich Schleiermacher.
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Und die Tinte floss reichlich

Glikl bas Judah Leib, Moses Mendelssohn und Else Ury hatten jüdische Wurzeln. In verschiedenen Epochen prägten sie die deutsche Kultur mit
Bertha Pappenheim als Glikl. So ließ sich die Memoiren-Übersetzerin 1925 von Leopold Pilichowski malen.
Bertha Pappenheim als Glikl. So ließ sich die Memoiren-Übersetzerin 1925 von Leopold Pilichowski malen.
Ich bin in Hamburg geboren“, berichtet die Kauffrau Glikl bas Judah Leib, bekannt auch als „Glückel von Hameln“, die erste Frau, die in Deutschland eine Autobiographie hinterlassen hat. „Aber wie ich gehört habe – von meinen lieben Eltern und auch von anderen – bin ich keine drei Jahre alt gewesen, als alle Juden von Hamburg vertrieben worden sind.“

Das Leben der außergewöhnlichen Frau beginnt also mit einer Vertreibung, die – nach christlicher Zeitrechnung – im Jahre 1649 stattfand. Auch im Fortgang ihrer Memoiren wird die sehr fromme Glikl immer wieder auf Bedrängnisse durch den Judenhass ihrer Umgebung zu sprechen kommen. Sie beginnt mit dem Schreiben, um sich über den Tod ihres geliebten ersten Mannes hinwegzutrösten, und berichtet ihren Kindern in sieben kurzen Büchern auf Westjiddisch von einem überaus aktiven Leben. Noch vor ihrem 14. Geburtstag wird sie mit Chaijm von Hameln verheiratet, 14 Schwangerschaften folgen. Als ihr Mann stirbt und sie mit acht noch unverheirateten Kindern zurücklässt, führt sie seinen Diamanten- und Perlenhandel weiter, tilgt seine Schulden, besucht die Messen in Leipzig und Frankfurt und schafft es, alle ihre Kinder in wohlhabende jüdische Familien einheiraten zu lassen. Eine zweite Ehe bringt ihr kein Glück. Zu ihren entfernten Nachkommen zählt nicht nur die Gründerin des Jüdischen Frauenbundes Bertha Pappenheim, die 1910 Glikls Memoiren ins Hochdeutsche übersetzte und so eine einzigartige Quelle für das jüdische Leben im 17. Jahrhundert eröffnete, sondern auch, Überraschung: Heinrich Heine. Dorothee Nolte
Moses Mendelssohn
Moses Mendelssohn
Wie so viele bedeutende Berliner kam auch Moses Mendelssohn von woanders her – wenn auch aus der Nähe: Geboren wurde er 1729 in Dessau. Der Legende nach soll er seinem Oberrabbiner David Fraenkel zu Fuß in einer fünftägigen Wanderung nach Berlin gefolgt sein, an die dortige neue Talmudschule. Der 14-Jährige arbeitet zunächst als Hauslehrer, schließt Freundschaften mit Gotthold Ephraim Lessing, der ihn in seinem Drama „Nathan der Weise“ als Idealtyp eines toleranten Humanisten verewigt, oder mit Verleger Friedrich Nicolai und entwickelt sich schließlich zum wichtigsten jüdischen Philosophen des 18. Jahrhunderts in Deutschland. Er veröffentlicht „Philosophische Schriften“ (1761) und „Ueber die Frage: was heißt aufklären“ (1784), übersetzt die Tora (die fünf Bücher Mose) für Juden ins Deutsche und gilt als prominenter Vertreter der Haskala, der jüdischen Aufklärung, die die Ideen von Toleranz und Gleichberechtigung auch für Juden anstrebt.

Moses Mendelssohn stirbt 1786, er ist auf dem Jüdischen Friedhof Weißensee beerdigt. Die Familie, deren Stammvater er ist, hat Gelehrte, Bankiers und Musiker hervorgebracht; am berühmtesten: Enkel Felix Mendelssohn Bartholdy. Die Mendelssohns sind Beispiel für die fruchtbare Symbiose, die für Juden in einem deutsch-christlichen Umfeld möglich war. Da neue Straßen in Kreuzberg nur nach Frauen benannt werden dürfen, wird mit typisch jüdischem Witz auch Mendelssohns Gattin geehrt: Seit 2013 heißt der Platz vor dem Jüdischen Museum Fromet-und-Moses-Mendelssohn-Platz. Udo Badelt
Else Ury war die bekannteste Jugendbuchautorin der Zwanzigerjahre.
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Sie trägt die Nummer 638. Als der Güterwaggon im Januar 1943 in Auschwitz ankommt, wird Else Ury mit tausend anderen deportierten Berliner:innen direkt in die Gaskammer getrieben. Wissen die KZ-Aufseher, dass sie eine berühmte Schriftstellerin ermorden?

„Habt ihr schon mal unser Nesthäkchen gesehen? Es heißt Annemarie, Vater und Mutti aber rufen es meistens Lotte. Eine lustige Stubsnase hat unser Nesthäkchen und zwei winzige Blondzöpfchen mit großen, hellblauen Schleifen“. Fast 100 Jahre ist es her, dass Else Ury diese Zeilen schreibt. So beginnt das erste Buch über die Arzttochter Annemarie Braun, das 1913 erscheint. Die zehnbändige Serie beschert Ury bald einen Riesenerfolg. Die gebürtige Berlinerin wird die bekannteste Jugendbuchautorin der zwanziger Jahre. Ihre Leserinnen lieben die wilde Heldin, die sie geschaffen hat.

Es ist eine heile Welt, die Else Ury in ihren Backfischromanen zeichnet. Ähnlich sieht auch ihre Kindheit aus. Sie kommt als Tochter eines Tabakfabrikanten zur Welt und wächst wohlbehütet in einem großen Haushalt mit Stubenmädchen und Köchin auf. Ihre gebildete Mutter führt sie in die Welt der Literatur.

Zunächst schreibt Ury zum Zeitvertreib. Später, als der Vater Bankrott anmeldet, unterhält sie die Familie. 1935 wird die 55-jährige Jüdin aus der Reichsschriftumskammer ausgeschlossen und erhält ein Schreibverbot. Kurz vor ihrem Tod lebt sie einsam und verarmt. Insgesamt 38 Bücher verfasst Else Ury. Diese Zahl ist Teil ihrer Transportnummer. Ein grausamer Zufall. Aleksandra Lebedowicz
Fotos: Art Collection/Alamy Stock Photo; Mauritius Images; Imago/Leemage; pa/akg-images
Erschienen im Tagesspiegel am 19.02.2021