1700 Jahre Jüdisches Leben

„Gehen Sie ruhig mal in eine Synagoge“

Seit Kurzem gibt es RABBINER bei Polizei und Bundeswehr. Warum sie viel bewirken können

Von Hella Kaiser

Endlich tut sich etwas, nach unfassbar langer Zeit: Jüdische Seelsorge im deutschen Militär, das gab es zuletzt vor 100 Jahren. In dieser Woche hat Zsolt Balla, Landesrabbiner von Sachsen, sein Amt als Militärrabbiner angetreten. Rund 300 Angehörige jüdischen Glaubens haben nun einen Ansprechpartner bei Problemen und Sorgen, so wie andere Soldatinnen und Soldaten schon längst bei evangelischen oder katholischen Militärpfarrern. Doch der gebürtige Ungar Balla will für alle da sein, egal welcher Konfession sie angehören oder ob sie konfessionslos sind. Er wünscht sich „eine Bundeswehr, die demokratische Kräfte lebt“.

Auch Shneur Trebnik geht es um ein gutes Miteinander in der Gesellschaft. Seit Januar betreut der Ortrabbiner der Israelitischen Religionsgemeinschaft Württemberg (IRGW) von Ulm die Württemberger Polizei. Das gemeinsame Anliegen von Balla und Trebnik: Sie wollen Deutschen vom Judentum erzählen, die jüdische Religion erklären, ihre Traditionen nahebringen. Shneur Trebnik teilt das Anliegen der vor 250 Jahren gegründeten Organisation Chabad Luwanitsch. „Wesentliches Ziel der Bewegung ist es, Juden, egal wo auf der Welt, zu unterstützen, ihnen die Möglichkeit zu geben, als Juden zu leben“, erklärt Trebnik.
Für ein gutes Miteinander. Shneur Trebnik ist Polizeirabbiner in Baden-Württemberg.
Für ein gutes Miteinander. Shneur Trebnik ist Polizeirabbiner in Baden-Württemberg.
2000 kam er, der in New York und Melbourne studiert hat, nach Ulm. Über zehn Ecken verschlug es ihn in eine Stadt, von der er zuvor nie etwas gehört hatte. „Ich wusste nicht, ob es ein Dorf oder eine Insel ist“, gestand er in einem Fernsehinterview. Gab es zuvor nur Hunderte Juden in Stuttgart, kamen nun Zuwanderer ins ganze Bundesland. „Die Frage war, wie geht man mit ihnen um?“, sagt Trebnik. Er akzeptierte die Stelle der IRGW. Die Tätigkeit war zunächst auf zwei Jahre befristet. „Was glauben Sie, wird in Ulm mit den Juden in zwei, drei Jahren sein? Wovon träumen Sie?“ wurde er gefragt. „Ein Mal in der Woche Gottesdienst.“ Genauso ist es gekommen. Rund 500 Menschen sind heute Mitglied der Israelitischen Religionsgemeinschaft Württemberg Zweigstelle Ulm. Trebnik hat einiges bewegt. Auch deshalb scheint er goldrichtig für die Aufgaben als Polizeirabbiner. „Die Idee kam vom Antisemitismusbeauftragen des Landes Baden-Württemberg, Michael Blume“, erzählt er.

Balla und Trebnik erleben herausfordernde Zeiten. Antisemitische Vorfälle nehmen zu, über 2300 waren es 2020, eine Steigerung von 15 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Vieles wird vermutlich gar nicht angezeigt. „Es gibt mehr Rechtsextremismus in Deutschland als wir denken“, sagt Trebnik.

Am 5. Juni 2021 in der Frühe wurde auf die Synagoge in Ulm ein Brandanschlag verübt. Zum Glück kam niemand zu Schaden. Polizisten, die vor Synagogen Wache stehen, glauben, dass sie Mahnmale schützen, sagt Trebnik. Vom jüdischen Leben, jüdischer Kultur wissen sie offenbar wenig. Was dagegen tun? Trebnik nahm die Polizisten mit in die Synagoge, erklärte ihnen etwa, warum „es bei uns nur das Alte Testament gibt und nicht das Neue“. Er zeigte ihnen den Thoraschrein. „Dort sind die fünf Bücher Mose auf Pergamentrolle, das sieht genauso aus wie vor 3300 Jahren. Die Menschen haben damals den Samstag als Sabbat gefeiert, wir machen es genauso.“
Zsolt Balla
Zsolt Balla
Der Rabbiner berichtet von einem Beamten im Innenministerium, der ihm stolz von seiner Anwesenheit bei zahlreichen Gedenkveranstaltungen erzählte und etliche Holocaustmuseen auf der Welt besucht hatte. In einer Synagoge aber war er nie. Aber dort kommt man ja nicht so einfach hinein? Stimmt nicht, sagt Trebnik. „Wir hatten 2019, vor der Pandemie, mehr als 7500 Besucher.“ Das Interesse sei groß.

Seelsorger, ob christlich oder jüdisch, müssen im Todesfall mit dem Leid der Hinterbliebenen umgehen. Im Polizeiseminar sei er gefragt worden, was zu beachten ist, wenn man jüdischen Betroffenen die traurige Botschaft überbringen müsse. Vor allem, so Trebnik, müsse man rasch handeln, denn nach jüdischem Glauben müsse eine Beerdigung so schnell wie möglich erfolgen. Auch sonst gibt es Besonderheiten: „Ein Augenzeuge einer Straftat wird am Sabbat nach seinem Ausweis gefragt. Aber an einem Sabbat hat er keinen Ausweis bei sich.“ Es wäre nicht schlecht, das zu wissen, findet der Rabbiner.

Shneur Trebnik ist auch äußerlich leicht als orthodoxer Jude zu erkennen. Er hat langen Bart und trägt oft den typischen, breitkrempigen schwarzen Hut. Hat er keine Angst, so durch die Stadt zu gehen? „Wenn ich Angst habe, meine Identität in der Öffentlichkeit zu zeigen, muss ich mir ein anderes Land aussuchen.“ Was aber rät er anderen Juden? „Ich kann niemanden sagen, bleib. Ich kann auch niemandem versichern, dass er sicher ist, ich bin kein Sicherheitsbeamter.“

Selbstbewusst sein und nicht zurückweichen sei eine gute Alternative. Wenige Stunden nach dem Brandanschlag in Ulm kamen die Gläubigen in die Synagoge, erzählt Trebnik. „Als sie hörten, was geschehen war, waren sie schockiert. Aber sehr schnell haben sie gesagt, wahrscheinlich ist hier im Haus nicht genug los, wir müssen mehr Aktivitäten bieten, mehr Menschen müssen herkommen.“ Das Interesse am Judentum zu wecken ist ein wichtiger Schritt. Sucht Shneur Trebnik vor allem das Gespräch, so wirbt Zsolt Balla auch musikalisch um sein Anliegen. Er ist in seiner Freizeit Bassgitarrist von „The Holy Smokes“. Sein Lieblingssong ist „Hallelujah“ von Leonard Cohen. Ein wunderbarer Aufruf gegen Hass – und fürs Zusammenrücken.
Fotos: picture alliance/dpa/ Stefan Puchner; dpa
Erschienen im Tagesspiegel am 25.06.2021