1700 Jahre Jüdisches Leben

„Bildung ist das einzige Mittel gegen Vorurteile“

Wir haben die historische Lektion nicht gelernt, sagt Wolfgang Benz. Der Antisemitismusforscher über Feindbilder und die Macht des Irrationalen

Von Aleksandra Lebedowicz

Herr Benz, in Deutschland wird wieder intensiv über Antisemitismus diskutiert. Viele Menschen sind verwirrt, was damit eigentlich gemeint ist – und was nicht?
Die Ratlosigkeit ist nicht verwunderlich. Heute tummeln sich unglaublich viele „Experten“, die pausenlos alles Mögliche als Antisemitismus deklarieren.

Was wollen Sie damit sagen?
Im Augenblick wird der Begriff in mancher Hinsicht neu definiert, nämlich als Kritik an Israel und seiner Politik.

Die Besatzung der palästinensischen Gebiete wird von einigen Gegnern mit dem Holocaust verglichen.
Das ist Unsinn und in der Tat antisemitisch. Solche Aussagen werden von Übereifrigen mit großer Gier instrumentalisiert, so dass sich viele kein kritisches Wort mehr gegen die israelische Regierung zu äußern trauen, weil sie fürchten, als Antisemit denunziert zu werden. Das ist aus meiner Sicht gefährlich.

Herr Benz, was also ist Antisemitismus?
Wer zu diesem Thema forscht, stößt auf zwei Probleme. Erstens: Alle wissen es besser. Zweitens: Niemand will es genau verstehen. Man lässt sich lieber von Emotionen leiten. Bücher dazu werden offenbar ins Regal gestellt, aber nicht gelesen. Antisemitismus ist, schlicht gesagt, wenn ich Juden hasse, weil sie Juden sind.

Der Historiker Robert Wistrich bezeichnete ihn sogar als „den längsten Hass“.
Das ist auch die allgemeine Erkenntnis der Wissenschaft. Antisemitismus ist das älteste religiöse, kulturelle, soziale und politisch-wirtschaftliche Vorurteil, dass die Menschheit kennt.

Wo genau kommt es her?
Seine Ursprünge liegen in der Spätantike mit dem Aufkommen des Christentums. Dass Juden die neue Heilslehre ablehnten und am eigenen Glauben festhielten, machte sie in den Augen der Neubekehrten zu Reaktionären und Außenseitern. Als das Christentum zur Staatsreligion wurde, verschärften sich die Vorbehalte. Das zog sich bis in die Neuzeit hinein.

Forscher sprechen in diesem Kontext vom Antijudaismus. Wo liegt da der Unterschied zum Antisemitismus?
Antijudaismus ist die religiös fundierte Ausgrenzung von Juden. Dazu gehört der Vorwurf, sie hätten Jesus getötet.

Wer die Taufe verweigerte, galt als Feind?
Die Ablehnung hatte politische und soziale Konsequenzen. Wer sich im Mittelalter nicht zur Mehrheitsreligion bekannte, gehörte de facto nicht zur Gesellschaft. Er wurde von den Zünften ausgeschlossen, er genoss nicht die Bürgerrechte wie die Christen und er konnte kein Land erwerben. Je mehr Menschen sich der neuen Heilslehre zuwandten, desto stärker kam die jüdische Minderheit in Bedrängnis.

Am Ende des 11. Jahrhunderts führte das zu grausamen Pogromen. Wie wird aus Vorurteilen Hass?
Offensichtlich gehört es zur psychologischen Grundausstattung des Menschen, dass er Feinde benennt – und das sind meistens die Minderheiten. Wir sehen sie durch die Brille unserer Vorurteile. Wir schreiben ihnen böse Eigenschaften zu, damit wir sie ablehnen können. Die AfD lebt davon, Muslime zu verachten, um ihr Selbstbewusstsein zu stärken.

Hierzulande wird das christlich-jüdische Abendland gern beschworen.
Diese zynisch-freche Parole halte ich für die größte Beleidigung, die man Juden intellektuell zufügen kann. Mehr als 1700 Jahre wollte man von ihnen nichts wissen. Jetzt sollen sie ins Boot gezwungen werden, nur weil man eine gemeinsame Front gegen Muslime aufbauen will.

Wird es schlimmer in Krisenzeiten?
Die Menschen suchen dann Schuldige. Im Mittelalter waren es die Juden, weil sie angeblich die Brunnen vergiftet und damit die Pest über Europa gebracht haben. Heute beschuldigen Corona-Leugner Bill Gates und die Eliten. Der Mechanismus ist gleich: Vorurteile werden auf Angehörige beliebig austauschbarer Minderheiten projiziert.

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Wolfgang Benz, 79, ist Vorurteilsforscher, Historiker und Autor. Er lehrte bis 2011 als Professor an der Technischen Universität Berlin und leitete dort das Zentrum für Anti­semi­tis­mus­forsch­ung.

Nun heißt es überall, der Antisemitismus nehme zu. Gibt es gerade besonders viele Vorurteile?
Nein, das glaube ich nicht. Es ist ein fester Kanon von Ressentiments, der sich im Laufe der Jahrhunderte herausgebildet hat: Die Juden hätten vor allem Geldgeschäfte im Sinn, sie scheuten anstrengende Arbeit und strebten nach der Weltherrschaft. Das ist uralt und tausendfach widerlegt worden – und genau deshalb beunruhigend.

Richard Wagner hat in seinem Aufsatz „Das Judentum in der Musik“ perfide, antijüdische Ressentiments durchdekliniert. Legte er damit den Grundstein für den modernen Antisemitismus?
Wagner war, bei aller Abscheulichkeit seiner Schrift, nur eine Randfigur. Er hat den Antisemitismus nicht erfunden, aber natürlich transportiert. Und weil so viele Menschen ihn als Musiker verehrten, glaubten sie seinem Urteil über die Juden.

Dennoch hat sein Pamphlet Hitler offenbar stark inspiriert.
Hitler war Wagner-Fan. Und Wagner war ein durchaus populärer Antisemit. Aber die Schlüsselfiguren waren damals Wilhelm Marr, der 1879 den Begriff Antisemitismus geprägt hat – das Wort gab es vorher nicht – und ganz prominent auch Houston Stewart Chamberlain mit seinem Buch „Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts“. Der gebürtige Engländer war zufällig auch Wagners Schwiegersohn. Er hat ihn aber nie kennengelernt.

Seitdem gilt Antisemitismus als die neue Form der Judenfeindschaft. Worin besteht diese Modernisierung?
Der Antijudaismus nimmt die Religion als Motiv, Juden zu hassen. Im Antisemitismus geht es um die sogenannte Rasse. Heute wissen wir, dass es gar keine Rassen gibt. Damals war das die modernste, wissenschaftliche Erkenntnis. Nun kamen die üblichen Schwarmgeister und drittklassige Schriftsteller auf den Plan und begründeten, warum der Jude schlecht ist: Es liegt in seinen Genen.

Es ist also eine körperliche Veranlagung, dass er Geld rafft und nicht Arbeiten will?
Der entscheidende Punkt ist: Antijudaismus ist zumindest in der Theorie überwindbar durch die Taufe. Wenn ich das Übel in meinem Körper trage, dann ist der „Makel“ durch nichts abwaschbar. Deshalb ist Antisemitismus die Steigerung der Judenfeindschaft.

Die Nazis haben diese Pseudowissenschaft für ihre Zwecke missbraucht.
Nach der Rassendoktrin war ein Jude eine Verbrechernatur, ein Untermensch im Nazijargon. Die Begründung ist genauso emotional wie die Ablehnung aus religiösen Gründen, beansprucht aber, rational zu sein.

Wie erklären Sie sich die Macht solcher Schriften, die keine theoretische Fundierung haben? Die „Protokolle der Weisen von Zion“ etwa, die angeblich eine jüdische Weltverschwörung belegen, kursieren bis heute, obwohl sie längst als Fälschung entlarvt wurden.
Sie sind sogar populärer denn je. Wer einem emotionalisierten Publikum Heilslehren verspricht, muss keine Gesetze der Logik beachten. Das gilt genauso für den amerikanischen Ex-Präsidenten, der behauptet hat, die Wahlen seien ein Betrug. Seine Anhänger glauben das, obwohl es dafür keine Beweise gibt. Die Macht des Irrationalen wird unterschätzt.

Sind Vorurteile eine ernsthafte Gefahr für unsere demokratische Gesellschaft?
Absolut. Doch es reicht nicht, den herrschenden Antisemitismus zu beklagen. Die Solidarität mit den Juden ist weniger wert, wenn man Sinti und Roma stigmatisiert, Lesben und Schwule missachtet oder gegen Muslime hetzt. Derzeit scheint es, als hätten wir einen Teil der historischen Lektion nicht gelernt: Wir dürfen keine Minderheit ausgrenzen. Die islamfeindliche Gewalt nimmt heute ungeheuer zu: 2020 gab es 900 Angriffe auf Muslim:innen und 48 schwere Körperverletzungen. Wir beklagen zurecht den Antisemitismus, aber die Gewalt gegen Muslime dürfen wir auch nicht hinnehmen.

Wie weit ist der Weg vom Vorurteil zur Gewalt?
Je aufgeklärter ich bin, desto länger ist der Weg. Bildung ist das einzige Mittel gegen Ressentiments.

In sozialen Netzwerken wimmelt es von fremdenfeindlichen Inhalten.
Die neuen Medien machen die traditionelle Aufklärung schwieriger.

Welchen Rat würden Sie jungen Menschen mitgeben?
Geht ins Netz, haltet dagegen, seid euch nicht zu fein dafür. Ich liefere gern die Argumente. Auf die wohltuende Wirkung von Gesetzen und staatlichen Regeln zu hoffen, die im Internet für Sauberkeit sorgen, wäre naiv.
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Stiftung - Erinnerung, Verantwortung und Zukunft
2021 Jüdisches Leben in Deutschland
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Standpunkt Beauftragter der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus

1700 JAHRE JÜDISCHES LEBEN IN DEUTSCHLAND
Eine gemeinsame Zukunft gestalten
Das Jubiläumsjahr 2021 bietet zahlreiche Möglichkeiten für Austausch und Begegnung. Eine Chance für neue Verbundenheit.
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Der Antisemitismusbeauftragte Dr. Felix Klein freut sich auf das Festjahr. Foto: René Bertrand/BMI
Dieses Jahr feiern wir 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland – dokumentiertes jüdisches Leben. Denn als die gegenüber Christentum und Islam älteste Abrahamitische Religion ist das Judentum mit großer Wahrscheinlichkeit schon vor dem Jahr 321 hier präsent gewesen – lange bevor es Deutschland als Nation überhaupt gab. So unterschiedlich die in der heutigen Republik zusammengefassten Regionen, früheren Fürsten- und Königtümer und freien Städte waren, so divers waren und sind auch jüdische Lebenswelten. Entsprechend reicht das Spektrum des Festjahres von alten Synagogengesängen bis zu Deutschrap. Religiös und säkular, Theater und Podcast, Jeckes und Misrachim: Heute zeigt sich Jüdisches in allen Farben und Formaten, und glücklicherweise auch selbstbewusst, ob laut oder leise.

Austausch statt Klischees

Jüdisches Leben ist konstitutiver Teil unserer Geschichte und Gegenwart – diese Fülle an kulturellem und religiösem Erbe gilt es zu entdecken! Viele nichtjüdische Deutsche kennen keine Jüdinnen und Juden persönlich. Oft sind antisemitische Klischees verbreiteter als konkretes Wissen oder eigene Erfahrungen. Angesichts der deutschen Geschichte vermischt sich Unwissen auch mit Befangenheit oder Scham.

Die etwa tausend Veranstaltungen und Projekte des Jubiläumsjahres setzen Öffnung und Austausch dagegen. Sie können jüdisches Leben in all seinen Facetten stärker sichtbar machen und damit im Alltag miteinander mehr Vertrautheit und Gelassenheit schaffen.

Gemeinsam Geschichte verstehen

Je mehr Austausch und Verständigung es unter- und zueinander gibt, desto verbundener kann man sich miteinander fühlen. Empathie halte ich für eine ganz notwendige Fähigkeit für unser Zusammenleben, denn sie öffnet den Blick für andere Perspektiven. Dann wird schnell sichtbar: Trauer gehört ebenso zur deutsch-jüdischen Geschichte wie Lebensfreude, Hoffnung und Humor. „Das“ Judentum gibt es dabei ebenso wenig wie „die“ Deutschen. Unsere individuellen Geschichten sind der Stoff unserer gemeinsamen Geschichte, aus der heraus wir miteinander unsere Zukunft gestalten.

Ich freue mich darauf. Auf ein fröhliches Festjahr, auf das Leben!
KONTAKT

Der Beauftragte der Bundesregierung
für jüdisches Leben in Deutschland und
den Kampf gegen Antisemitismus

Dr. Felix Klein

Bundesministerium des Innern,
für Bau und Heimat
Alt-Moabit 140, 10557 Berlin

www.antisemitismusbeauftragter.de

Fotos: Getty Images; picture alliance/dpa/Jörg Carstensen
Erschienen im Tagesspiegel am 19.02.2021