Impfen & Immunsystem

Ein Impfstoff verschwindet

Noch im Frühjahr war er in aller Munde. Doch was ist eigentlich aus Astrazeneca geworden?

Von Hella Kaiser

Keine Frau ist glücklich, wenn sie die magische Zahl 60 überschritten hat. Im April vergangenen Jahres aber hatten wir, die Ü 60, allen Grund zum Jubeln. Das Zauberwort: Astrazeneca. Was bei Männern und jüngeren Frauen eventuell und sehr, sehr selten gravierende Nebenwirkungen (Hirnvenenthrombosen) auslösen konnte, schien für Frauen unseres Alters unbedenklich. Juhu! Rein mit der Spritze, und die zweite dann zwölf Wochen danach. Ich bekam sie am 29. Juni. Genau einen Tag später empfahl die Ständige Impfkommission (Stiko) die Zweitimpfung mit Biontech. War ich dennoch einigermaßen gut geschützt? Konnte ich mich auf Astrazeneca, diesen an der Universität Oxford entwickelten Impfstoff, verlassen?

Biontech und Moderna sind seither in aller Munde, von Astrazeneca hört man nichts mehr. Das RKI beruhigt auf seiner Website: „Der Astrazeneca-Impfstoff schützt ebenso gut gegen schwere Verläufe wie die mRNA-Impfstoffe.“ Trotzdem wollte ihn offenbar niemand mehr. „Mit zunehmender Verfügbarkeit von Impfstoffen und nachlassender Impfbereitschaft der Bevölkerung wurden im Sommer 2021 insbesondere Impfdosen von Astrazeneca entbehrlich“, schreibt das RKI. Die nicht abgerufenen Dosen sollten über das Covax-Programm gespendet werden. Covax steht für „Covid-19 Vaccines Global Access“. Am 9. August erklärte die Bundesregierung, dass „in einem ersten Schritt fast 1,3 Millionen Impfdosen an fünf Länder abgegeben“ werden sollten. Man konnte das Vakzin auch nicht einfach liegenlassen, bis die Nachfrage wieder stieg. „Der Impfstoff von Astrazeneca ist sechs Monate im Kühlschrank (2 bis 8 Grad) haltbar, danach kann er nicht mehr verimpft werden“, schreibt das Bundesgesundheitsministerium.

Zwei Impfungen mit Astrazeneca hatten sich inzwischen erledigt. Studienergebnisse zeigten, „dass die Immunantwort nach einen sogenannten heterologen Impfschema (erste Impfung mit Vaxzevria von Astrazeneca/zweite Impfung mit Moderna oder Biontech deutlich besser ist, als zwei Impfdosen mit Vaxzevria".

Vielleicht erlebt Astrazeneca in Europa eine Renaissance

Inzwischen wird Astrazeneca in Deutschland nicht mehr angeboten. Laut Medienberichten wurden 7,6 Millionen Dosen des Vakzins bilateral anderen Staaten zur Verfügung gestellt und zehn Millionen weitere dem internationalen Covax-Programm gespendet.

Auch in Frankreich wird der Impfstoff von Astrazeneca kaum noch verimpft, sogar in Großbritannien setzt man, vor allem bei den Auffrischungsimpfungen, auf mRNA-Impfstoffe. Habe ich also einem „Loser-Impfstoff “ vertraut? Das RKI kontert die provokante Frage mit dem schriftlichen Hinweis: „Es gibt generell keine ’minderwertigen’ Impfstoffe.“

Astrazeneca rühmt am 23. November 2021 auf der firmeneigenen Website „seine Schlüsselrolle bei der Bewältigung der Pandemie“. Rund 175 Millionen Dosen an 130 Länder weltweit seien geliefert worden. „Ungefähr zwei Drittel des gesamten Volumens gingen an Länder mit niedrigem und mittlerem Einkommen.“

Ob Astrazeneca oder Biontech, bei beiden Wirkstoffen lässt der Schutz Studien zufolge nach. Es muss geboostert werden. Die Europäische Arzneimittelbehörde (EMA) beruft sich in einem Statement auf britische Wissenschaftler und folgert: „Eine bessere Immunantwort rief demnach eine vollständige Impfung mit Astrazeneca oder Biontech/ Pfizer, gefolgt von einem Moderna-Impfstoff neun Wochen später hervor. In diesen Kombinationen war der Antikörperspiegel am höchsten:“

Noch vor wenigen Wochen wollten alle nur Biontech. Und als Jens Spahn „Moderna als Rolls-Royce der Impfstoffe“ anpries – Biontech war knapp geworden – glaubte ihm kein Mensch. Nun stellte sich heraus, dass gerade der Booster von Moderna sehr gut gegen die Omikron-Variante schützen soll.

Derweil weist die Weltgesundheitsorganisation (WHO) auf ein massives Ungleichgewicht bei der Vakzin-Verteilung hin. Länder mit hohen Einkommen hätten im Durchschnitt 100 Impfdosen pro 100 Einwohner verabreicht. Gleichzeitig hätten Länder mit niedrigen Einkommen nur 1,5 Dosen pro 100 Menschen verimpfen können, weil ihnen Vakzine fehlen. Was das für neue Mutationen bedeutet, liegt auf der Hand.

Die Wahl des Impfstoffs in den reichen Ländern ist ein Luxusproblem. Vielleicht erlebt Astrazeneca in Europa sogar eine Renaissance. Nicht nur in Mainz, auch in Oxford wird schließlich immer weiter geforscht.
Foto: Kitty Kleist-Heinrich
Erschienen im Tagesspiegel am 22.12.2021