Impfen & Immunsystem

Déjà-vu mit Ansage

Die Omikron-Variante des Coronavirus wird sich über kurz oder lang auch in Deutschland durchsetzen. Impfen allein wird das Problem nicht lösen. Nötig wäre eine Kombination von Maßnahmen

Von Beatrice Hamberger

Nahezu beiläufig und gänzlich unkommentiert erwähnte Lars Klingbeil dieser Tage bei Markus Lanz in einer Diskussion über Omikron: „Wir wussten nicht, dass eine neue Variante kommt.“ Man fragt sich, wo der frisch gewählte SPD-Vorsitzende die letzten zwei Jahre gewesen ist. Dabei fühlt sich die Berichterstattung über Omikron an wie ein Déjà-vu. Die rasend schnelle Verbreitung, die Prognosen, wann die neue Variante Deutschland erreicht, die Sorgen, dass sie ansteckender und gefährlicher sein könnte– all das kennen wir schon von Alpha und Delta. Und jedes Mal wird der Teufel an die Wand gemalt. Der unsägliche Ebola-Vergleich des Weltärztebund-Chefs einen Tag, nachdem die WHO Omikron zur „besorgniserregenden Sars-CoV-2-Virusvariante“ erklärte, war ein absoluter Tiefpunkte in der Krisenkommunikation.

Tatsache ist: Auch Alpha und Delta gehören seit ihrem ersten Auftauchen in England bzw. Indien in die Kategorie der „variants of concern“. Beide „VoC“-Varianten zeichnen sich durch Mutationen aus, die die Übertragbarkeit des Virus und die Reproduktionszahl im Vergleich zum ursprünglichen Typ aus Wuhan erhöhen. Obendrein kann Delta leichter dem Immunsystem entkommen, was die vielen Impfdurchbrüche in der vierten Welle erklärt. Nach Angaben des Robert Koch-Instituts (RKI) schützen die mRNA-Impfstoffe aber immer noch 90 von 100 Geimpften vor einem schweren Krankheitsverlauf und 75 von 100 vor einer symptomatischen Infektion.

Und Omikron? Zunächst einmal besitzt die vor vier Wochen aus Südafrika gemeldete Variante eine ungewöhnlich hohe Zahl von etwa 30 Aminosäureänderungen im Spike-Protein und sieht somit doch recht anders aus als alle vorherigen Varianten. Die rasend schnelle Verbreitung in Südafrika legt nahe, dass Omikron auch sehr viel ansteckender ist. Ungewöhnlich ist das nicht. Virologen wissen, dass sich Viren ständig optimieren.

Omikron könnte auch zu milderen Verläufen der Krankheit führen

Auf europäischem Boden ist dieses Naturgesetz aktuell in Großbritannien zu beobachten. Innerhalb von nur zwei Wochen ist Omikron zur vorherrschenden Variante geworden, die Zahl der Omikron-Infizierten verdoppelt sich derzeit alle zwei Tage. Den britischen Daten zufolge ist das Risiko für eine Wiederansteckung 5,4-mal höher als bei der Delta-Variante. Am Samstag rief die Hauptstadt London wegen der rasanten Ausbreitung den Katastrophenfall aus. Die WHO bekräftigt, Omikron breite sich mit einer Geschwindigkeit aus, „die wir bei keiner vorherigen Variante gesehen haben.“ Niemand zweifelt mehr daran, dass auch Deutschland von einer Omikron-Welle betroffen sein wird. Nur wann und wie heftig, darüber gehen die Meinungen auseinander.

Bislang gibt es keine Hinweise, dass Omikron für den Einzelnen gefährlicher oder tödlicher sein könnte. Das südafrikanische Gesundheitsministerium meldet trotz Rekordinzidenzen weniger Tote und Krankenhauseinweisungen als in früheren Wellen. Nach ersten Daten der Discovery Health South-Africa Studie ist das Hospitalisierungsrisiko im Vergleich zur ersten Welle um fast 30 Prozent geringer, das Risiko für eine intensivmedizinische Behandlung von 30 auf 13 Prozent gesunken. Es ist also durchaus denkbar, dass Omikron entgegen aller Befürchtungen zu milderen Krankheitsverläufen führt.

Daten aus Südafrika sind jedoch nicht einfach auf Deutschland übertragbar, weil die Menschen jünger sind und viele bereits infiziert waren. Omikron scheint die Immunität aber zumindest so aufheben, dass Re-Infektionen in großem Stil möglich sind. Laut der Studie des Krankenversicherers Discovery Health schützt eine doppelte Impfung mit Biontech nur zu 33 Prozent vor Infektion. Aber immerhin zu 70 Prozent vor schweren Verläufen. Auch der Entdecker der Omikron-Variante, Wolfgang Preiser von der Stellenbosch University Südafrika, geht derzeit davon aus, „dass eine Impfung eine schwere Erkrankung recht zuverlässig verhindert.“

Labordaten aus Frankfurt am Main können diese Einschätzung nicht bestätigen. Virologen um Sandra Ciesek vom Universitätsklinikum hatten in einer sehr aufwändigen Studie die neutralisierenden Antikörper in Blutproben von Personen bestimmt, die entweder zweimal mit Biontech, zweimal mit Moderna oder einmal mit AstraZeneca plus einmal Biontech geimpft wurden. Zentrales Ergebnis: Lag die Impfung sechs Monate zurück, fand Null Neutralisation bei Omikron statt.
ANZEIGE

Impfen.
Die beste Antikörperantwort fand sich bei Personen, die frisch geboostert waren. Etwa 60 Prozent hatten 14 Tage nach der dritten Impfung nachweisbare Antikörper gegen Omikron im Blut. Ähnlich sah es bei Genesenen und einmal Geimpften aus. Lag der Booster allerdings drei Monate zurück, sank der Impfschutz von 60 auf 25 Prozent. Das ist ein denkbar schlechtes Ergebnis. Zum Vergleich: Bei Delta reduzierte sich der anfangs 100-prozentige Booster-Schutz nach zwölf Wochen auf 95 Prozent! Allerdings sind neutralisierende Antikörper nicht alles. Erste Labordaten der Universität Kapstadt zur T-Zellantwort nach Biontech-Impfung zeigen, dass die Killerzellen unseres Immunsystems auch das mutierte Spike-Protein von Omikron erkennen.

Während das RKI derzeit keine Angaben zur Impfstoffwirksamkeit macht – eine Bewertung sei wegen fehlender Daten nicht möglich – schwört Gesundheitsminister Karl Lauterbach die Bevölkerung aufs Boostern ein. Mit der Auffrischungsimpfung habe man nach augenblicklicher Studienlage einen Schutz von 75 Prozent gegen die Omikron-Variante. Die restlichen 25 Prozent würden in der Regel nicht schwer erkranken, betont er. Doch lässt sich mit der Booster-Impfung tatsächlich die Omikron-Welle abwenden, wie der SPD-Politiker letzte Woche noch suggerierte? Oder sagt er das nur, weil die ersten angepassten Impfstoffe nicht vor April verfügbar sein werden und wir im Augenblick nichts Besseres haben? Der Expertenrat der Bundesregierung folgt jedenfalls der Ansicht der Weltgesundheitsorganisation, wonach Impfstoffe allein kein Land aus dieser Krise herausholen werden. „Nicht Impfen statt Masken, Abstand, Lüften oder Händehygiene – sondern alles zusammen“, so das Credo von WHO-Direktor Tedros Adhanom Ghebreyesus.

Wenn der Corona-Expertenrat aktuell neben massiver Ausweitung der Impfkampagne eine Verschärfung der übrigen Gegenmaßnahmen empfiehlt, dann nicht etwa, weil Omikron so gefährlich wie Ebola wäre, sondern weil mehr Infizierte grundsätzlich mehr Krankheitslast bedeuten. In London ist es dadurch zwar noch nicht zu einem Anstieg der Todesfälle gekommen, wohl aber zu Hunderten Krankmeldungen im Gesundheitswesen. Expertenratsmitglied Christian Drosten erinnerte die pandemiemüden Deutschen per Twitter daran: „So geht es los.“
Foto: Getty Images
Erschienen im Tagesspiegel am 22.12.2021