Impfen & Immunsystem

Alle haben es geschluckt

Anders als heute bei Covid-19 war die Würfelzucker-Impfung gegen Polio in den 1960er und 1970er Jahren gesellschaftlich nahezu vollständig akzeptiert. Und zwar in der DDR wie in der Bundesrepublik gleichermaßen. Was war damals anders? Ein medizingeschichtlicher Rückblick

Von Klaus Grimberg

Wer als Kind in den 1960er oder 1970er Jahren aufgewachsen ist, kann sich noch genau an die „Schluckimpfung“ erinnern: An das mit einigen Tropfen Flüssigkeit getränkte Stückchen Würfelzucker, das ein Arzt oder eine Ärztin im Gesundheitsamt verabreichte. „Schluckimpfung ist süß – Kinderlähmung ist grausam“, lautete damals der Slogan. Eltern erklärten, dass die Tropfen auf dem Stückchen Zucker gegen eine schlimme Krankheit hälfen, bei der man Arme oder Beine nicht mehr richtig bewegen könne. Und noch etwas ist in der – subjektiven– Erinnerung haften geblieben: Niemand, weder Eltern oder Großeltern, noch Tanten, Onkels oder die Eltern von Freunden, hat jemals die Schluckimpfung in Frage gestellt.

Blickt man auf die sehr hohen Impfquoten der damaligen Kampagne, bestätigt sich dieser Eindruck. Warum aber war das so? Warum gab es offenbar eine viel höhere gesellschaftliche Akzeptanz gegenüber der Schluckimpfung als heute bei der Corona-Impfung? Die Gründe dafür, sagt der Münsteraner Medizinhistoriker Professor Malte Thießen, seien vielfältig. „Ein wichtiger Aspekt ist, dass die Krankheit in den 1950er und frühen 1960er Jahren sehr sichtbar und damit allgegenwärtig war.“ Insbesondere in Epidemie-Hotspots wie dem Ruhrgebiet stand jungen Eltern genau vor Augen, was eine Ansteckung mit dem Polio-Virus im schlimmsten Fall bedeuten konnte. Überdies hatte genau diese Elterngeneration selbst als Kinder oder Jugendliche im Zweiten Weltkrieg erlebt, welches lebenslange Leid Verstümmelungen oder Verletzungen hervorrufen können. Auch diese Erfahrungen führten dazu, die eigenen Kinder schnellstmöglich schützen zu wollen.

„Nicht zu unterschätzen ist außerdem, dass die Schluckimpfung gegen Polio von Beginn an freiwillig war. Anders als die Impfung gegen Pocken, die seit dem frühen Deutschen Kaiserreich in ganz Deutschland verpflichtend war“, erklärt Thießen. Diese Impfpflicht hatte schon im 19. Jahrhundert die Gemüter erregt und ihre Akzeptanz verringert. Die Debatten über das „Reichsimpfgesetz“ von 1874 zogen sich im Reichstag über fünf lange Sitzungen hin. Sehr grundsätzlich wurde darüber gestritten, ob und unter welchen Bedingungen ein solcher Eingriff in die Familie und die Grundrechte statthaft sei. Bereits vor der Gründung des Kaiserreichs war in den deutschen Einzelstaaten teilweise erbittert um die Pockenimpfpflicht gerungen wurden. Neben nachvollziehbaren staatsrechtlichen Erwägungen wurde auch schon damals vor einem „totalen Gesundheitsstaat“ oder einer vermeintlichen „jüdischen Volksverschwörung“ gewarnt.

Die Krankheit war sehr sichtbar und überall gegenwärtig

Ausgerechnet die Nationalsozialisten bestritten in den 1930er und 1940er Jahren bei der Diphterie-Schutzimpfung einen anderen Weg. „Natürlich gab es den indirekten Druck, als Einzelner zur Volksgesundheit beizutragen. Aber grundsätzlich war diese Impfung freiwillig“, sagt Thießen, der in seinem aktuellen Buch „Auf Abstand. Eine Gesellschaftsgeschichte der Coronapandemie“ den historischen Blick auf verschiedene Impfkampagnen miteinbezieht. Statt einer Impfpflicht setzte der NS-Staat auf eine Allianz mit dem Impfstoffhersteller, den Behringwerken in Marburg: Dessen massiven Werbefeldzug mit Plakaten und Broschüren trugen die Gesundheitsämter in die Fläche und verliehen dem Impfaufruf damit offizielle Autorität. Auch eindringliche Werbebotschaften in den damaligen Massenmedien, im Radio und im Kino, verfehlten ihre Wirkung nicht.

Alle diese Erfahrungen flossen in die Vorbereitung der Schluckimpfung gegen die Kinderlähmung ein. Von Beginn an wurde die Kampagne mit großem medialen Aufwand begleitet. Bekannte Agenturen produzierten „Schockclips“, in denen neben Aufklärung vor allem auf Emotionen gesetzt wurde. Ein einsam über den Krankenhausflur humpelndes Kind im Kontrast zu wild tobenden Kindern auf dem Spielplatz, dazu eine düster-mahnende Stimme, die vor der grausamen Kinderlähmung warnte – in den 1960er Jahren trafen solche Botschaften ins Mark der Gesellschaft. Zumal sich der Erfolg der Impfungen sehr schnell einstellte: Mit Beginn der Kampagne 1962 in Westdeutschland sank die Zahl der Erkrankungen schlagartig, 1964 wurden bundesweit nur noch 54 Fälle vermeldet.

Die DDR war zu diesem Zeitpunkt sogar schon deutlich weiter. Denn dort hatte man bereits Ende der 1950er Jahr mit einem Impfstoff aus der Sowjetunion den Kampf gegen Polio begonnen und die Krankheit 1961 nahezu vollständig besiegt. Was die DDR-Führung, wohlgemerkt im Jahr des Mauerbaus, zu einem Telegramm an das Bonner Kanzleramt veranlasste, man würde der Bundesrepublik angesichts einer zu der Zeit im Ruhrgebiet grassierenden Epidemie gerne mehrere Millionen ostdeutscher Impfdosen zur Verfügung stellen. Gewissermaßen als medizinische Entwicklungshilfe des überlegenen Sozialismus. Kanzler Konrad Adenauer tat dieses Angebot als reine Propaganda ab. In der bundesdeutschen Öffentlichkeit wurde die Offerte aus dem Osten jedoch nicht nur ablehnend betrachtet. Historiker Thießen hat in den Archiven etliche Leserbriefe aus Zeitungen gefunden, in denen die Zurückweisung des Impfstoffs „aus politischen Gründen“ und auf dem Rücken der Kindergesundheit kritisiert wird. Im Impfwettlauf mit der DDR zurückzuliegen, so sagt Thießen, habe den Druck auf die westdeutsche Regierung immens erhöht, ebenfalls den Rückgang der Ansteckungen nachweisen zu können.

Will man Verlauf und Erfolg der Polio-Impfung und der Covid-Impfung miteinander vergleichen, muss man natürlich auch den Umfang und die zeitlichen Abläufe der Kampagnen in den Blick nehmen. Bei der Schluckimpfung wurden einzelne Jahrgänge mit maximal ein bis zwei Millionen Kindern geimpft und das über einen deutlich längeren Zeitraum. Außerdem kämpfte man gegen ein Virus, das so gut wie nicht mutierte. Bekanntermaßen war die Ausgangslage im Frühjahr 2019 eine völlig andere: Mehr als 80 Millionen Menschen in Deutschland waren nun potentielle „Impflinge“, die in kürzester Zeit vor einem ständig mutierenden Virus geschützt werden sollten.

„Hinzu kommt eine mentale Prägung: Seit den 1970er Jahren hat sich im kollektiven Bewusstsein immer stärker das Heilsversprechen einer vollständigen Immunisierung durch Impfungen festgesetzt“, sagt Thießen. In den 1960er Jahren habe hingegen noch das Verständnis einer „relativen Sicherheit“ vorgeherrscht: Eine Impfung schützt zwar, aber dennoch bleibt ein Restrisiko bestehen. „Dieses Verständnis ist in den zurückliegenden Jahrzehnten aufgrund der großen Impferfolge schrittweise verloren gegangen, wir haben es jetzt in der Corona-Pandemie erst wieder ein Stück weit lernen müssen“, sagt Thießen. In dieser Hinsicht sei das Geschehen der letzten beiden Jahre vielleicht sogar ein „heilsamer Schock“ gewesen.
Foto: Ullstein
Erschienen im Tagesspiegel am 21.10.2021