Welt-Alzheimertag 2021

Ein Antikörper macht Hoffnung

Aducanumab verlangsamt den Gedächtnisabbau. Seine Zulassung in den USA ist umstritten – und doch ist er ein Wendepunkt in der Alzheimer-Therapie

Von Beatrice Hamberger

Eigentlich müsste in der Alzheimer-Forschung Aufbruchsstimmung herrschen, nachdem am 7. Juni dieses Jahres in den USA der Amyloid-Antikörper Aducanumab gegen Morbus Alzheimer zugelassen wurde. Denn zum ersten Mal setzt ein Medikament bei den grundlegenden Mechanismen der Erkrankung an: den Amyloid-Eiweißen, die sich im Gehirn von Alzheimer-Patienten ablagern und dort zu Plaques verklumpen. Die Plaques werden mit der Zerstörung der Nervenzellen in Verbindung gebracht.

Doch die Zulassung des monoklonalen Antikörpers mit dem Handelsnamen Aduhelm ist umstritten. Im März 2019 hatte Hersteller Biogen aufgrund einer Zwischenanalyse entschieden, beide Phase-III-Studien zu Aducanumab abzubrechen, da die Aussicht auf Erfolg als statistisch nicht erreichbar eingeschätzt wurde. Erst eine erneute Auswertung der Daten hatte – nach einigem Hin und Her – schließlich zur beschleunigten Notfallzulassung im Juni durch die US-Arzneimittelbehörde Food and Drug Administration (FDA) geführt.

Der Wirkstoff hatte gezeigt, dass er in der Lage ist, die schädlichen Amyloid-Beta-Plaques effektiv aus dem Gehirn zu entfernen. Dass der FDA diese Biomarker-Daten für die Notfallzulassung reichten und eine klinische Wirksamkeit lediglich als „wahrscheinlich“ angenommen wurde, sehen viele Experten als problematisch an. „Notfallzulassungen ohne eindeutigen klinischen Wirksamkeitsnachweis sind generell kritisch zu bewerten“, schreibt das Deutsche Netzwerk Gedächtnisambulanzen in einer Stellungnahme. Noch deutlicher wird der Berufsverband der Neurologen und Nervenärzte: „Zwei große Phase-III-Studien haben die klinische Wirksamkeit der Amyloidreduktion im Gehirn untersucht. Das Ergebnis ist ernüchternd.“
Während in der Engage-Studie kein klinischer Effekt festgestellt werden konnte, zeigte die Emerge-Studie, dass die höchste verabreichte Dosis den kognitiven Verfall um 22 Prozent verlangsamen kann. Geht man bei Alzheimerpatienten von einer durchschnittlichen Überlebenszeit von acht bis zehn Jahren aus, würde das etwa zwei Jahre Lebenszeitgewinn bedeuten. „Das ist ein Wert, der bis dato mit keiner anderen Therapie erreicht werden konnte“, betont Johannes Levin, der auch an der Stellungnahme des Deutschen Netzwerks Gedächtnisambulanzen beteiligt war. Der Neurologe vom LMU Klinikum München und Forscher am Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen bewertet das neue Alzheimer-Medikament darum „vom Grundsatz her positiv.“

Den erhofften Durchbruch in der Alzheimer-Therapie sieht er hingegen wie viele seiner Kollegen nicht. „Aducanumab wirkt nur bei leichter kognitiver Beeinträchtigung in der sehr frühen Phase der Erkrankung, indem es den Abbauprozess verlangsamt. Gestoppt werden kann die aggressive Erkrankung damit nicht.“

Zu dem Dilemma, dass Patienten das Mittel idealerweise schon bekommen müssten, bevor sie erste Alzheimer-Symptome zeigen, kommen Sicherheitsbedenken. In den Studien traten bei 35 Prozent der Patienten, die die höchste Dosierung verabreicht bekamen, sogenannte Amyloid-bedingte Schädigungen auf. Diese ARIA äußern sich als vorübergehende Schwellungen oder Mikroblutungen im Gehirn. Weitere unerwünschte Nebenwirkungen waren Kopfschmerzen, Stürze, Verwirrtheit, Delir und Desorientierung.

Der Sicherheitsaspekt sei der entscheidende Knackpunkt, meint Alzheimer-Experte Levin. „Wir sehen unter Aducanumab zum Teil dramatische Einblutungen ins Gehirn, die zwar oft kaum Symptome machen, aber ein ernstzunehmendes Sicherheitssignal sind.“ Gleichzeitig sei die klinische Wirksamkeit mit einer Krankheitsverlangsamung von 22 Prozent eher bescheiden. „Die Frage ist, ob man bei einer solchen Effektgröße das Risiko potenziell schwerwiegender Nebenwirkungen in Kauf nehmen will.“

Biogen ist jetzt aufgefordert, Daten zur Sicherheit und Wirksamkeit durch eine Phase-IV-Studie nachzuliefern. Im ungünstigsten Fall könnte die US-Zulassung auf dem Spiel stehen, weil die von den Ergebnissen einer zusätzlichen Studie abhängig gemacht wurde. Über eine Zulassung für Europa und damit auch für Deutschland entscheidet die Europäische Arzneimittel-Agentur EMA voraussichtlich im Herbst. Ob sie der FDA folgen wird, ist noch völlig ungewiss.
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Bei der Zulassung geht es auch um viel Geld: Aducanumab ist mit Jahrestherapiekosten von 56 000 US-Dollar extrem teuer. Umso wichtiger sind weitere Analysen, wer von dem Medikament überhaupt profitiert und ob die monatlichen Infusionen nicht reduziert werden können, wenn die Amyloid-Plaques einmal verschwunden sind.

Trotz aller Bedenken und Kritik stellt die Zulassung von Aducanumab nach einhelliger Meinung einen Wendepunkt in der Alzheimer-Therapie dar. Bisherige Medikamente – das letzte wurde im Jahr 2002 zugelassen – stimulieren die Hirnleistung, greifen aber nicht bei den Ursachen für den Gedächtnisschwund an.

Die Entwicklung von Aducanumab basiert dagegen auf dem molekularen Krankheitsverständnis der Alzheimer-Erkrankung. Schweizer Forscher hatten im Blut von gesunden Hochaltrigen gezielt nach Immunzellen gesucht, die in der Lage sind, Antikörper gegen Amyloid-Beta zu bilden. Diese Antikörper wurden dann im Labor nachgebaut und schließlich mit der US-Firma Biogen in die klinische Erprobung gebracht.

Neben Aducanumab befinden sich aktuell drei weitere gegen Amyloid gerichtete Antikörper in Zulassungsstudien, von denen eine vergleichbare Wirksamkeit erwartet wird. Doch auch andere Ansätze machen sich das neue Krankheitsverständnis zunutze, und einige haben durchaus das Potenzial, auch in spätere Krankheitsphasen einzugreifen. Wirkstoffe, darunter kleine Moleküle, gegen das Tau-Protein und das alpha-Synuclein Protein sind in Entwicklung bis hin zu Gentherapien, die die Herstellung von Eiweißen herunterfahren, die zu den pathologischen Ablagerungen führen.

„Wir ernten jetzt langsam die Früchte aus zwei Jahrzehnten herausragender Grundlagenforschung“, sagt Neurologe Levin. Seiner Ansicht nach werden es Therapiekombinationen sein, die in nicht allzu ferner Zukunft die Neurodegeneration der Alzheimerschen Erkrankung stoppen könnten. Darauf, so Levin, „hat die Menschheit seit Alois Alzheimer gewartet.“
Foto: David A. White/p-a
Erschienen im Tagesspiegel am 21.09.2021