Welt-Alzheimertag 2021

Pfade ins Leben

Der Verein „Herzton“ stellt Klänge zur Verfügung, mit denen sich Erinnerungen aktivieren lassen. Gegründet hat ihn die Podcasterin Christine Schön.

Von Erik Wenk

Was tut man, wenn die eigene Mutter oder der eigene Vater dement werden? Wie mit Charakterveränderungen umgehen? Wie den gemeinsamen Alltag neu gestalten, ohne sich selbst aufzugeben? Und wo holt man sich Hilfe, wenn die Belastung zu groß wird? Solche und andere Fragen stellen sich viele Menschen, wenn Angehörige von Demenz betroffen sind. Christine Schön weiß das aus eigener Erfahrung: „Es gibt wahnsinnig viele Fragen“, sagt die 52-jährige Berliner Hörfunkautorin, die seit 2019 einmal im Monat den Demenz-Podcast produziert. In jeder Folge widmet sie sich 30 Minuten lang ausführlich einem Thema: Diagnose, rechtliche Fragen, Musikwahrnehmung von Demenzerkrankten, Kommunikationsstrategien oder seltenen Ausprägungen der Krankheit.

Wie die Meisten begann sich Christine Schön mit dem Thema zu beschäftigen, weil ihre eigene Familie betroffen war: „Mein Vater wurde vor zehn Jahren dement“, erzählt sie. „Ich habe diese Hilflosigkeit an mir selber wahrgenommen, danach hat mich das Thema nicht mehr losgelassen.“ Damals wusste sie noch nicht viel über die Krankheit und musste die Erfahrung machen, dass sie ihren Vater über kognitive Zugänge nicht mehr richtig erreichen konnte: „Wenn ich ihn gefragt habe, ob er sich noch erinnert, wie es damals im Urlaub in Spanien war, dann wusste er das natürlich nicht. Ich habe immer wieder versucht, ihn in meine Welt zurückzuziehen.“ Genau das funktioniert jedoch ab einem gewissen Punkt nicht mehr: Demenzerkrankte leben in ihrer eigenen Welt mit ihrem eigenen Tempo.

Während Erinnerungen verblassen, bleiben Emotionen präsent. Dabei spielt der Hörsinn eine große Rolle: „Klänge sind etwas sehr Emotionales“, erklärt Schön. „Man kann Menschen mit Demenz etwa gut über Lieder aus ihrer Kindheit erreichen. Dann sind sie ganz da.“ Die Idee, einen Podcast für Angehörige von Demenz-Patient:innen zu machen, hatte Schön schon vor zehn Jahren. Zuerst produzierte sie ein Audioformat, das sich direkt an Demenzkranke und Ältere richtete: „Hörzeit – Radio wie früher“.

Die 45-minütigen Radiomagazine waren im Stil der 50er Jahre gehalten, bewusst langsam produziert und beschäftigten sich jeweils mit einem Thema, etwa Reisen, Fußball, Kindheit oder Jahreszeiten. Mit der Verwendung typischer Klänge – Rattern von Zügen, Stadiongesänge, Kinderlachen – und bekannter Musikstücke, Sprichwörter oder Abzählreime sollten Hörende emotional aktiviert und Erinnerungen an früher wachgerufen werden. Die Idee zu „Hörzeit“ kam Schön durch Gespräche mit ihrem Vater: „Er hatte mir immer davon erzählt, wie er früher gemeinsam mit anderen Radio gehört hat.“ Zusammen vor dem Gerät sitzen und Unterhaltungsshows, Sportübertragungen oder Konzerte hören: diese Erfahrung der älteren Generationen wollte Schön mit Hörzeit wieder wachrufen.
Ein paar Jahre später entwickelte sie das Konzept weiter: 2016 gründete Schön mit anderen Radiomacher:innen den Verein „Herzton – mediale Begegnungsräume für Generationen“. Auf der Webseite findet man viele kurze Audiobeiträge mit „Klängen für Menschen mit Demenz“. So gibt es in der Kategorie „Dialekte“ kurze Interviews, Gedichte oder Geschichten auf plattdeutsch, bayrisch oder saarländisch. Unter „Tiere“ sind Vogelstimmen oder ein Gespräch mit einem Tierpfleger zu hören, unter „Berufe“ Klangcollagen aus einer Schusterwerkstatt. Demenzkranke sollen sich diese Audiobeiträge nicht alleine anhören: „Es sind Beziehungsangebote“, sagt Schön. Betroffene und Angehörige sollen darüber ins Gespräch kommen, wenn herkömmliche Kommunikation nicht mehr so funktioniert wie früher. Ergänzt werden die Audiobeiträge daher mit Vorschlägen für gemeinsame Aktivitäten und Gespräche: Herbstspaziergang, Fragen zu Lieblingstieren, gemeinsames Singen. Der Name „Herzton“ kommt dabei nicht von ungefähr: „Hören ist der sensibelste unserer Sinne, er ist der erste, den wir im Mutterleib entwickeln, und von da an können wir unsere Ohren nicht mehr verschließen“, heißt es auf der Webseite. „Deshalb sind Klänge besonders geeignet zur Aktivierung von Menschen mit Demenz.“

Vor zwei Jahren startete Schön dann den „Demenz-Podcast“. Das Format bot sich aufgrund seiner leichten Zugänglichkeit an. Pflegende Angehörige, die viele Verpflichtungen und wenig Zeit haben, können die Folgen nebenbei hören. Nach langer Suche fand Schön 2019 mit dem Medhochzwei Verlag endlich einen Herausgeber, der ihre Idee unterstützte. Seit Mai 2021 ist die Deutsche Alzheimer-Gesellschaft Mitherausgeberin, gefördert wird der Podcast unter anderem von der IKK Südwest. „Für mich war wichtig, dass Angehörige von Menschen mit Demenz einen Service an die Hand bekommen“, sagt Schön. Viele der ersten Podcast-Folgen drehen sich deshalb um grundlegende Themen: „Tagesablauf mit allen Sinnen“, „Selbstfürsorge“, „Sport und Bewegung“ oder „Wechsel ins Pflegeheim“. Auch tabuisierte oder unangenehme Themen spart Schön nicht aus, etwa Demenz in jungen Jahren oder Demenz und Sexualität: „Für Angehörige und Pflegende ist es oft schwierig, wenn die dementen Eltern sexuell neu erwachen“, sagt Schön. Pflegende erzählen in der entsprechenden Folge davon, wie sich demente Heimbewohner:innen neu verliebt haben oder wie sie selbst mit übergriffigem Verhalten umgehen.

Das Feedback zum Podcast ist durchweg positiv: „Er ist wahnsinnig gut angekommen“, sagt Schön. So schreibt Hörerin Anja Merz, selbst betroffene Angehörige: „Dabei wird der richtige Ton getroffen, sachlich, informativ, gefühlsbetont, humorvoll aber nie mitleidig und das tut so gut.“ Hörer:innen loben nicht nur, sondern machen auch Vorschläge für neue Sendungen: „Die Themen gehen uns nicht aus“, so Schön. Über 30 Sendungen sind mittlerweile veröffentlicht. Wie viele regelmäßige Hörer:innen es gibt, ist schwer zu sagen, da sie sich über verschiedene Audio-Plattformen verteilen, auf denen der Podcast vertreten ist. Allein auf Spotify wurde die erste Folge schon über 6000 mal heruntergeladen oder gestreamt.

Noch tun sich viele schwer mit dem Thema Demenz: „Viele drücke das weg, es ist immer noch ein Tabuthema“, sagt Schön. Dabei wäre die Beschäftigung damit dringend nötig, gerade in einem stark alternden Land wie Deutschland, das laut einer Statistik der Vereinten Nationen 2020 an Platz fünf der Länder mit dem höchsten Altersdurchschnitt der Bevölkerung stand. Doch es gibt Bewegung: So beschäftigen sich immer mehr Filme mit dem Thema, etwa die Hollywood-Produktion „The Father“, die gerade in den Kinos läuft. „An dem Thema Demenz hängt so viel dran: Wie ist unser Gesundheitssystem aufgestellt, wie gehen wir mit den Schwächsten der Gesellschaft um?“, sagt Schön. „Es ist gut, dass das Thema jetzt langsam im Mainstream ankommt.“

www.demenz-podcast.de, Webseite des Vereins: www.herzton.org
                    

Zur Person

Die Engagierte

Christine Schön
Christine Schön
Christine Schön arbeitet seit 20 Jahren als Hörfunkautorin unter anderem für Deutschlandradio Kultur, den WDR und den SWR. Sie war auch als Klangkünstlerin und Kulturmanagerin tätig, zum Beispiel für die Universität der Künste Berlin. Außerdem gibt sie Workshops für Mitarbeiterinnen von Seniorenheimen und für Altenpflegeschüler. Erik Wenk
Fotos: Imago, Privat
Erschienen im Tagesspiegel am 21.09.2021