Welt-Alzheimertag 2021

Ohren sind die Fenster zur Welt

Es gibt Risikofaktoren, die die Entwicklung einer Demenz begünstigen. Jetzt wurde entdeckt: Auch Schwerhörigkeit gehört dazu. Sie führt nicht nur zu Isolation, es werden auch weniger akustische Signale im Gehirn verarbeitet. Frühzeitig gegensteuern hilft


Grund für Optimismus

Neue Erkenntnisse zum Welt-Alzheimertag
Pionier der Demenzforschung. Der Psychiater Alois Alzheimer (1864-1915).
Pionier der Demenzforschung. Der Psychiater Alois Alzheimer (1864-1915).
1901 begegnete Alois Alzheimer erstmals der Patientin Auguste Deter und entdecke an ihr die Symptome jener Krankheit, die später nach ihm benannt werden sollte. Nach Deters Tod 1906 untersuchte er ihr Gehirn und fand dort jene Ablagerungen (Plaques), die wahrscheinlich eine Schlüsselrolle bei der Entstehung von Alzheimer spielen. Heute, fast 120 Jahre später, sind weltweit rund 55 Millionen Menschen von dieser oder anderen Demenzerkrankungen betroffen, in Berlin sind es 42 000. Und da das Durchschnittsalter steigt, nimmt auch ihre Zahl weiter zu. Bis zur Mitte des Jahrhunderts soll sie global auf 139 Millionen anwachsen, vor allem in China, Indien und Subsahara-Afrika.

Die gute Nachricht: Auch das Wissen über Demenz nimmt stetig zu – und damit auch unsere Erkenntnisse über Ursachen, mögliche Therapien und Prävention. So teilt die Barmer Ersatzkasse mit, dass aktuellen Studien zufolge Diabetes, Bluthochdruck oder Rauchen die Entstehung einer Demenz begünstigen. Eine fleisch- und milcharme Ernährung mit viel Gemüse und ungesättigten Fettsäuren sowie körperliche Aktivität könne das Alzheimer-Risiko um 45 Prozent senken.

Auf dieser und der Folgeseite befassen wir uns vor allem mit einem für Demenzbetroffene zentralen Sinn: dem Hören. Klänge können nicht nur verlorengegangene Erinnerungen wieder reaktivieren, gutes Hören ist auch wichtig, um überhaupt gar nicht erst in die Isolation abzurutschen, die eine Demenz begünstigen kann. Der 1994 ins Leben gerufene Welt-Alzheimertag (www.welt-alzheimertag.de) an diesem 21. September stellt noch einen anderen Sinn in den Mittelpunkt: „Demenz – genau hinsehen“ ist das diesjährige Motto. Wenn Angehörige oder Freunde bemerken, dass sich jemand verändert, sollten sie behutsam mit dem oder der Betroffenen reden und eine ärztliche Untersuchung vorschlagen.

Die Deutsche Hirnstiftung bietet an diesem Dienstag von 18 bis 20 Uhr ein Expertentelefon an (Tel. 030/531 43 79 36). Noch bis 29. September läuft der Online-Kongress „Demenz ist anders“ (https://events.michaelhagedorn.de), den der Fotograf Michael Hagedorn veranstaltet. uba
               


Von Adelheid Müller-Lissner

Manchmal will man einfach nichts hören von den Gebrechen und Krankheiten, die mit zunehmendem Alter drohen. Vor allem nicht von Alzheimer oder anderen Formen der Demenz. Man möchte sich nicht mit Gedanken daran quälen – wo die Behandlungsmöglichkeiten bisher noch recht mager sind und hohes Lebensalter, das doch eigentlich wünschenswert ist, Risikofaktor Nummer eins darstellt.

Dennoch muss man hellhörig werden, wenn eine hochkarätig besetzte Expertenrunde wie die „Commission on Dementia Prevention, Intervention, and Care“ in der führenden medizinischen Fachzeitschrift „The Lancet“ klar und deutlich äußert: Mehr als ein Drittel aller Fälle von dementiellen Erkrankungen könnten theoretisch vermieden werden, weitere sind zumindest um Jahre „aufschiebbar“.

Die Stellschrauben, an denen wir drehen müssen, um unser individuelles Risiko zu verringern, sind vielfältig, sie werden unter dem Begriff „Lebensstilfaktoren“ zusammengefasst, und viele von ihnen sind seit Jahren bekannt. Einige wirken auf den ersten Blick banal, haben es aber bei näherer Betrachtung in sich, denn sie wirken auch zur Vorbeugung anderer Leiden: Gute Bildung und kognitives Training, körperliche Bewegung, ausgewogene Ernährung, das Vermeiden von Übergewicht, die frühzeitige Behandlung von hohem Blutdruck, Diabetes und Depressionen, der Verzicht auf das Rauchen. Während Faktoren wie Bildung und geistige Beweglichkeit wohl deshalb schützen, weil sie dem Einzelnen eine größere „kognitive Reserve“ zur Verfügung stellen, von der er oder sie eine Weile zehren kann, kann man mit einem körperlich gesunden Lebensstil und der Behandlung von zu hohem Blutdruck die Gefäße und andere Strukturen des Organs Gehirn bestmöglich vor Schaden bewahren.

HNO-Ärzte fordern: Ab 50 regelmäßig das Gehör testen!

Zwei schützende Elemente hat die Kommission, nach der Sichtung neuer Studien, in ihrem letzten Bericht neu in die Liste aufgenommen: „Soziale Aktivitäten“ und das „Management von Hörverlust“. „Eine Schwerhörigkeit im mittleren Lebensalter ist mit acht Prozent der größte modifizierbare Risikofaktor. Damit ist die Prävention von Hörverlust für die Demenzvorsorge bedeutender als zum Beispiel zu hoher Blutdruck oder Übergewicht“, resümiert Stefan Zimmer, Koordinator der deutschsprachigen WHO-Kampagne zum Welttag des Hörens (World Hearing Forum) und Vorstandsvorsitzender des Bundesverbandes der Hörsysteme-Industrie e.V. (BVHI).

In beiden Fällen, bei sozialer Isolierung wie beim Hörverlust, sind es komplizierte Zusammenhänge, die die berühmte Frage nach der Henne und dem Ei aufwerfen. Denn es liegt nahe, dass kognitive Fähigkeiten abnehmen, wenn man sie nicht im Kontakt mit anderen einsetzt, es ist aber auch plausibel, dass Menschen sich von sozialen Beziehungen zurückziehen, wenn sie das Abnehmen solcher Fähigkeiten bereits bemerken oder wenn eine beginnende Demenz ihre Interessen verändert. Dass auch das Hörvermögen bei der Freude am Kontakt mit anderen Menschen eine entscheidende Rolle spielt, leuchtet unmittelbar ein. Verkompliziert wird die Lage aber dadurch, dass insbesondere die vaskulären, gefäßbedingten Formen der Demenz und Einbußen beim Hören auch gemeinsame Ursachen haben können, nämlich Gefäßveränderungen im Gehirn. Sie treten im höheren Lebensalter vermehrt auf.

„Auch wenn die kausalen Zusammenhänge noch nicht abschließend geklärt sind, ist die Korrelation von unbehandelter Schwerhörigkeit und steigendem Demenzrisiko deutlich“, betont Zimmer. „Eine Erklärung ist, dass durch Schwerhörigkeit weniger akustische Signale im Gehirn verarbeitet werden können, was die kognitive Leistungsfähigkeit beeinträchtigt. Auch die andauernde Belastung durch die starke Konzentration auf das Hören kann zu einer Vernachlässigung anderer Hirnfunktionen führen.“ In vielen Fällen meiden Menschen, deren Schwerhörigkeit nicht behandelt wird, solche anstrengenden Situationen auch zunehmend. „Sie setzen sich damit weniger Impulsen und Eindrücken von außen aus, die das Gehirn fordern.“ Eine Folge dieser Isolation: Das Risiko für die Entwicklung einer Depression steigt. Ein Teufelskreis. Denn auch Depressionen steigern das Risiko, an einer Demenz zu erkranken.
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Alzheimer Angehörigen-Initiative
Was tun? „Die Antwort ist so simpel wie einleuchtend“, sagt Jan Löhler, Direktor des Wissenschaftlichen Institutes für angewandte HNO-Heilkunde des Berufsverbandes der Hals-Nasen-Ohrenärzte e.V.. „Spätestens ab dem 50. Lebensjahr sollte das Gehör regelmäßig getestet und bei Bedarf adäquat, etwa mit Hörgeräten, versorgt werden!“ Sein Berufsverband plädiert dafür, dass ein Hörscreening ab 50 in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen aufgenommen wird. Hörverluste sind nämlich bereits bei 32 Prozent der über 55-Jährigen zu verzeichnen – wenn auch zunächst in milder Form.

Dass Hörhilfen auch eine Investition in die gesundheitliche Zukunft sein können, legt eine Auswertung von Krankenkassen-Daten nahe, die eine japanische Forschergruppe um Bobuo Sakata im September 2019 in der Fachzeitschrift „Journal of the American Geriatrics Society“ veröffentlicht hat. Unter den über 100 000 Menschen, die zu Beginn 66 Jahre alt waren, war bei vielen ein Hörverlust diagnostiziert worden. Unter denjenigen, die daraufhin auf ärztlichen Rat ein Hörgerät trugen, wurde Jahre später im Vergleich zu den Personen, die zu Beginn der Beobachtungszeit kein solches Gerät trugen, deutlich seltener und später die Diagnose Demenz gestellt, zudem waren unter ihnen weniger Stürze zu beklagen.

Das zu deuten ist schwierig: Wer sich bei einem diagnostizierten Hörverlust für ein Hörgerät entscheidet, tut möglicherweise auch auf anderen Gebieten mehr für seine Gesundheit, ihm oder ihr liegt wahrscheinlich mehr am Gespräch mit anderen und allgemein am sozialen Leben. Die Autoren sagen denn auch deutlich: Wir können nur einen Zusammenhang zwischen beidem erkennen, zwischen dem Tragen von Hörgeräten und einer gegenüber Gleichaltrigen verringerten Gefahr, an einer Demenz zu erkranken. Um eine kausale Beziehung zu belegen, wären theoretisch Studien nötig, für die zu Beginn gesunde Teilnehmer:innen nach dem Zufallsprinzip auf zwei Gruppen verteilt werden, die regelmäßig auf ihr Hörvermögen getestet werden und gegebenenfalls entweder ein Hörgerät bekommen oder nicht. Doch würden sich für eine derartige Untersuchung Freiwillige finden? „Sie würde auch durch keine Ethikkommission der Welt genehmigt werden“, gibt HNO-Spezialist Löhler zu bedenken.

Sein Institut hat einen kurzen und schlicht wirkenden, aber wissenschaftlich geprüften Fragebogen zum individuellen Hörverhalten entwickelt, den Mini-Audio-Test (mini-audio-test.de). „Der sechs Punkte umfassende Fragebogen lässt sich online oder bei einem Besuch beim Haus- oder Facharzt mit geringem Aufwand in wenigen Minuten beantworten“, so der Experte. Eine pragmatische Lösung: „Ist die Beantwortung auffällig, erhält der Patient eine Überweisung zu einem HNO-Facharzt für eine gründliche Untersuchung.“ Dabei kann auch herauskommen, dass ein kleiner operativer Eingriff oder auch nur die Entfernung eines Pfropfs aus Ohrenschmalz ausreichen, um ihn oder sie wieder „ganz Ohr“ sein zu lassen.
Fotos: Mauritius Images, Imago
Erschienen im Tagesspiegel am 21.09.2021