UNO-Flüchtlingshilfe

„Die Hilfsbereitschaft ist ungebrochen“

UNHCR-Repräsentant Frank Remus über zivilgesellschaftliches Engagement, erfolgreiche Integration und die deutsche EU-Ratspräsidentschaft als Chance

Von Matthias Matern

Herr Remus, als 2015 die erste große Welle Geflüchteter Deutschland erreichte, löste das eine beachtliche Hilfsbereitschaft aus. Was ist von dem Geist noch übrig?
Ich bin ja erst seit März hier und dann bald in den Corona-Modus gekommen, was in unserem Fall Homeoffice für alle hieß. Deswegen habe ich noch keinen umfassenden Überblick. Aber inzwischen sind ja die ersten 47 unbegleiteten, minderjährigen Flüchtlinge aus Griechenland in Deutschland angekommen. Wir haben sie seitdem begleitet, auch über das Internet mit ihnen selbst Kontakt gehalten, und verfolgen weiter, wie es ihnen geht. In diesem Zusammenhang ist mir sehr deutlich geworden, wie viel Engagement in der Zivilgesellschaft nach wie vor vorhanden ist.

In wie fern?
Als die Kinder im April in Hannover ankamen, kam es am Ende doch recht plötzlich. Es konnte nicht sehr viel organisiert werden. Da haben vor allem die Menschen der Kinder- und Jugendeinrichtung in der Nähe von Bad Essen, wo die Kinder untergebracht waren, schnell Hilfe angeboten. Quasi aus dem Nichts heraus haben Freiwillige, unterstützt von den Behörden dort ein Freizeitlager mit allen möglichen Aktivitäten für die Kinder auf die Beine gestellt und Dolmetscher halfen, Sprachbarrieren zu überwinden. Das hat auch die Kinder beeindruckt und sie fühlten sich gut aufgehoben. Also, meines Erachtens hat die Hilfsbereitschaft gar nicht nachgelassen.

Immer wieder versuchen rechte Gruppierungen und Parteien, Vorbehalte gegen Zuwanderer zu schüren. Das hat sich also nicht negativ ausgewirkt?
Nein, ich glaube kaum. Wegen Corona bin ich sehr viel in der Stadt zu Fuß unterwegs. Immer wieder fallen mir Botschaften auf, die dafür werben, weitere Menschen aus Lagern wie Moria aufzunehmen. Es ist außerdem erstaunlich, wie viele Menschen nach wie vor für die Flüchtlinge spenden. Jährlich erhält unser Partner in Deutschland, die UNO-Flüchtlingshilfe rund 23 Millionen Euro für UNHCR Projekte weltweit. Trotz Corona ist es dieses Jahr nicht etwa weniger geworden, sondern sogar noch gut 1,5 Millionen Euro mehr, Stand heute.

Ende 2015 ging es darum, die Angekommenen vernünftig unterzubringen, dann waren Sachen wie Kinderkleidung und Fahrräder gefragt. Danach mussten viele durch den Behördendschungel gelotst werden. Welche Hilfe wird heute gebraucht?
Der Schwerpunkt liegt jetzt mit Sicherheit auf der Integration. Dabei beeindruckt mich momentan ganz besonders das Engagement in der Privatwirtschaft. Viele Firmen, darunter auch zahlreiche große Unternehmen wie die Deutsche Bahn oder Volkswagen, um nur einige zu nennen, bilden Flüchtlinge aus und übernehmen einige von ihnen. Fast 50 Prozent der erwerbsfähigen Flüchtlinge, die 2015/2016 zu uns gekommen sind, haben inzwischen eine Arbeit. Das ist ein Erfolg.

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Frank Remus (63) ist seit März Vertreter des Hohen UN-Flüchtlings­kommissars.

Was ist für die Integration noch wichtig?
Natürlich spielen auch die Schulen und der ganze Bildungsbereich eine wichtige Rolle. Und auch hier hilft die Zivilgesellschaft zusätzlich und durchaus erfolgreich. Aber der wichtigste Punkt ist wohl die Sprache. Immerhin 85 Prozent haben inzwischen an einem Deutschkurs teilgenommen. Das fällt vor allem jungen Menschen leichter. Manche ältere haben dagegen noch nicht das notwendige Niveau erreicht. Hier ist die Unterstützung der Gemeinschaft besonders wichtig.

Welche Möglichkeiten gibt es, auch im Ausland zu helfen?
Sehr viele Deutsche engagieren sich über Nichtregierungsorganisationen. Ein Beispiel sind Ärzte ohne Grenzen, die auch in Griechenland aktiv sind. Besonders bei jungen Menschen ist die Bereitschaft groß. Griechenland steht dabei natürlich immer wieder im Fokus. Schließlich wird über die Lage in den Flüchtlingscamps viel berichtet. Aber auch in unserer Organisation bieten sich immer wieder junge Leute an, fragen nach Praktika und sind hoch motiviert, für uns zu arbeiten – manchmal auch unter sehr schwierigen Sicherheitsbedingungen. Eine deutsche Kollegin war zum Beispiel für uns im Jemen unterwegs. Das ist schon nicht so ganz einfach.

Sie waren vor Berlin viel im Ausland. Wie hat man die deutsche Hilfsbereitschaft dort wahrgenommen?
Als Deutschland sich 2015 entschlossen hat, die Flüchtlinge aus Ungarn nicht abzuweisen und sich den Herausforderungen zu stellen, war ich gerade in Wien. Auch dort hatten sich spontan am Hauptbahnhof Menschen versammelt, die den Flüchtlingen Proviant, Hygieneartikel und anderes zugesteckt haben. Dabei sind die Flüchtlinge in Wien nur umgestiegen und weitergefahren. Aber mein Eindruck ist schon, dass man im Ausland überwiegend großen Respekt davor hat, dass Deutschland damals diese Entscheidung getroffen hat, Verantwortung übernahm und aus meiner Sicht damit eine humanitäre Katastrophe verhindert hat.

Wie wirkt sich die Corona-Pandemie auf Ihre Arbeit aus?
Wir haben uns von Anfang an intensiv damit beschäftigt. Haben uns verschiedene Einrichtungen angeschaut, geguckt was läuft, was nicht. Daraus haben wir eine Handlungsempfehlung erarbeitet, die wir im Mai den Behörden übergeben haben. Das ist sehr gut angekommen. Überhaupt ist Deutschland eines der Länder, das seine Grenzen trotz Corona für Asylsuchende nie richtig zu gemacht hat. Vielleicht auch Dank unseres Einwirkens. Das ist ein Erfolg. Das Virus hat also sicherlich Dinge verändert und gezeigt, wo es Schwierigkeiten in den Einrichtungen gibt, aber insgesamt ist es doch sehr gut gelungen, die Lage im Griff zu behalten. In Deutschland ist meines Wissens kein Flüchtling wegen Corona diskriminiert oder anders behandelt worden als andere Menschen.

Die aktuelle Entwicklung im Libanon und in Belarus, die anhaltenden Konflikte in Syrien und der Ostukraine – Es sieht nicht so aus, als seien Hilfsangebote für Geflüchtete in Deutschland bald überflüssig. Was muss künftig besser laufen als zuletzt?
Deutschland hat insgesamt die Flüchtlingskrise sehr gut gemeistert. Das Wichtigste ist jetzt, dass diese Erfahrung dabei hilft, auch in ganz Europa die Lage für Asylsuchende zu verbessern. Vor allem vor dem Hintergrund, dass in vielen Ländern wie etwa im Libanon oder in Jordanien, wo sehr viele Flüchtlinge unter schwierigen Bedingungen leben, den Menschen langsam die Mittel ausgehen, sich weiterhin ausreichend zu versorgen. Man kann also nicht ausschließen, dass die Flüchtlingszahlen in Europa demnächst wieder steigen. Darauf sind die EU-Länder aber nicht vorbereitet. Deutschland muss deshalb die Ratspräsidentschaft dafür nutzen, Fortschritte beim Aufbau eines praktikablen und nachhaltigen Asylsystems für die gesamte Europäische Union zu erzielen.
                     

Aktiv werden

Freiwillige gesucht

Über das Programm „Neustart im Team“ etwa können sich freiwillige Helfer zu Mentoren ausbilden lassen, in einem Team neu angekommene Geflüchtete aufnehmen und die ersten Jahre begleiten. Ein Team besteht dabei immer aus mindestens fünf Personen. (neustartimteam.de)

„Zusammen für Flüchtlinge“ ist eine Initiative der Berliner Spendenplattform betterplace.org. Dort werden Angebote für ehrenamtliches Engagement rund um die Flüchtlingshilfe gesammelt. Über die Eingabe der Postleitzahl werden diverse Initiativen gelistet, bei denen man sich engagieren kann. (zusammen-fuer-fluechtlinge.de)

„Start with a friend“ stiftet Freundschaften zwischen Geflüchteten und in Deutschland lebenden Menschen. Nach eigenen Angaben hat der gemeinnützige Verein seit 2015 bereits mehr als 6000 Tandems zusammengebracht. (start-with-a-friend.de)

Spendenkonto des UNO-Flüchtlingshilfe e.V.:
IBAN: DE78 3705 0198 0020 0088 50
BIC: COLSDE33
Sparkasse KölnBonn
Stichwort: UNHCR
mat

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Quellen: UNHCR, bamf Stand: August 2020
Fotos: Getty Images, promo Grafik: Tagesspiegel/Rita Böttcher
Erschienen im Tagesspiegel am 29.08.2020