75 Jahre Unicef

„Der Blick aus dem All schärft die Sensibilität“

Über Flüge zur Internationalen Raumstation ISS, Maßnahmen gegen den Klimawandel – und Kinderträume. Gespräch mit Alexander Gerst

Von Andreas Mühl

Herr Gerst, Sie erhalten vermutlich viele Anfragen von gemeinnützigen Institutionen oder Hilfsorganisationen. Nach welchen Kriterien wählen Sie aus, wo Sie sich ehrenamtlich engagieren?
Als ESA Astronaut habe ich die Chance, eine gemeinnützige Organisation auszuwählen, die ich unterstützen darf. Unicef leistet wichtige Arbeit in 190 Ländern. Sie hilft Kindern, egal wo sie leben, welche Hautfarbe sie haben, welcher Ethnie oder Religion sie angehören. In Konflikten wird immer auf beiden Seiten geholfen. Die Verantwortung für Kinder sollte uns alle verbinden. Wenn man vom All aus auf die Erde schaut, sieht man wie fragil dieser Planet ist. Man realisiert, dass wir aufeinander Acht geben müssen. Und, dass wir dafür sorgen müssen, dass unsere Generation nicht als diejenige in Erinnerung bleiben wird, die die Lebensgrundlagen der nächsten Generationen egoistisch und rücksichtslos zerstört hat.

Sie sind schon seit einigen Jahren als Unicef-Botschafter tätig, haben während der ESA-Mission „Horizons“ zur ISS die Unicef-Aktion „Träume sind grenzenlos“ unterstützt. Die meisten Kinder können ihre Träume aber niemals realisieren. Wie machen Sie ihnen trotzdem Mut?
Jeder Mensch hat irgendeinen Traum. Und viele davon sind realisierbar! Die Jugendlichen, die die Aktion entwickelt hatten, wollten damit zeigen, dass unsere Träume gar nicht so unterschiedlich sind – Frieden, sinnvolles Lernen, dass es unseren Familien und Freunden gut geht, dass wir eine lebenswerte Zukunft haben. Mir ist klar, dass Träume allein die Welt nicht zum Besseren verändern können. Aber sie sind der erste Schritt dahin, denn sie ermutigen zum Handeln. Und vielleicht kann ich diesen jungen Menschen Mut machen und sie darin unterstützen, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen.

„Der Blick aus dem All schärft die Sensibilität“ Image 2
Alexander Gerst (45), Geophysiker, Vulkanologe und Astronaut verbrachte auf zwei Weltraummissionen 362 Tage im All. Seit März 2015 ist er auch Unicef-Botschafter.

Sie selbst betonen immer wieder, dass Sie schon als Kind und Jugendlicher ins Weltall wollten. Viel ehrgeizigere Träume und Ziele kann man kaum haben. Muss man auch ein Scheitern einkalkulieren?
Ich bin nicht Astronaut geworden, weil ich dachte, dass ich es in jedem Fall schaffe. Ich war bereits Wissenschaftler und wusste, dass meine Chance bei über 8000 Bewerberinnen und Bewerbern nicht besonders hoch war. Ich habe mich dennoch beworben, da ich meinem Traum einmal eine faire Chance geben wollte. Das Hauptziel hatte ich dadurch schon erreicht, alles weitere wäre kein Scheitern mehr gewesen. Dass ich dann ausgewählt wurde, hat mich selbst sehr überrascht. Und es zeigt, dass man viel mehr Träume realisieren kann, als man manchmal glaubt. Ich denke deshalb, jedes Kind braucht faire Chancen für seine Träume. Das ist auch der wichtigste Grund für mich, warum ich mich für Unicef engagiere.

Als europäischer Astronaut aus Deutschland sind Sie Vorbild für künftige Astronautengenerationen – die kommende wird von der ESA gerade ausgewählt. Wohin wird es für diese und auch für Sie gehen?
Derzeit sind meine Gedanken bei meinem Kollegen Matthias Maurer, der im November im Rahmen seiner Mission Cosmic Kiss zur ISS gestartet ist. Wir unterstützen uns bei Missionen natürlich immer gegenseitig. Zum jetzigen Zeitpunkt können wir als ESA sagen, dass wir unseren Beitrag zur Internationalen Raumstation ISS bis 2030 leisten möchten, was natürlich auch Flüge dorthin erfordert. Gleichzeitig bereiten wir uns auf zukünftige Flüge Richtung Mond vor – und zwar an Bord des Orion-Raumschiffs, welches die ESA derzeit gemeinsam mit der NASA konstruiert, sowie in der Gateway Raumstation, die bald um den Mond kreisen wird. Letztere Missionen sind wesentlich komplexer als Missionen zur ISS, und werden einiges an Erfahrung erfordern. Es wird also im nächsten Jahrzehnt einige Flugmöglichkeiten für ESA Astronautinnen und Astronauten geben, sowohl für die erfahrenere Generation, als auch für die bis dahin neu ausgewählten. Es ist daher notwendig, unterschiedliche Ebenen von Erfahrung im Astronautenkorps zu erhalten und aufzubauen, deshalb freuen wir uns auch auf die Verstärkung. Zu einer Mondmission aufbrechen zu dürfen fände ich als Geophysiker, aber auch als neugieriger Erdbewohner sehr faszinierend.
Weihnachtlich. Die Silhouette lässt sich mit etwas Fantasie als Tanne deuten. Das Foto gelang Alexander Gerst während seiner 2. Weltraummission am 3. Dezember 2018 von Bord der „Sojus“. Zum Fest war der Astronaut wieder wohlbehalten zu Hause angekommen.
Weihnachtlich. Die Silhouette lässt sich mit etwas Fantasie als Tanne deuten. Das Foto gelang Alexander Gerst während seiner 2. Weltraummission am 3. Dezember 2018 von Bord der „Sojus“. Zum Fest war der Astronaut wieder wohlbehalten zu Hause angekommen.
Noch nie waren ökologische Themen auch geopolitisch so sehr auf der Agenda wie in jüngster Zeit. Haben Sie als Wissenschaftler Hoffnung, dass wir die richtigen Schritte noch rechtzeitig machen werden, um zum Beispiel klimatische Katastrophen zu verhindern?
Wir haben als Menschheit die Probleme des Klimawandels erkannt, müssen nun auf globaler Ebene die richtigen Entscheidungen treffen, umsteuern und dabei versuchen, so viele Menschen wie möglich mitzunehmen. Viele existierende und auch neue Initiativen der ESA zielen darauf ab, bei der Lösung dieser Fragen mitzuwirken. Dabei spielen Erdbeobachtungsprogramme eine kritisch wichtige Rolle, die Erhebung von Klimadaten, Programme zur Vermeidung und Beseitigung von Weltraummüll, aber auch die Entwicklung neuer Technologien zur nachhaltigen Verwendung von Rohstoffen, wie wir sie auf der ISS durchführen.

Wie hat sich Ihre Perspektive auf die Welt durch die Sicht aus dem All während Ihrer zwei Missionen in den Jahren 2014 und 2018 verändert?
Der Blick aus dem All schärft die Sensibilität. Auf der Erde haben wir uns an Kriege gewöhnt, weil sie immer irgendwo stattfinden. Aber wenn man vom All aus die Einschläge von Raketen in dicht besiedelten Gebieten sieht, wird einem schlagartig klar, wie absurd sie tatsächlich sind. Es wäre gut, wenn möglichst viele Menschen diese Perspektive auf uns selbst erhalten könnten. Deshalb war und ist es mir immer wichtig meine Eindrücke aus dem All mit vielen Menschen über die sozialen Medien zu teilen.

Was wünschen Sie sich als Unicef-Botschafter zum Jubiläum in diesem Dezember?
Ich wünsche uns allen, dass noch mehr Menschen den Mut aufbringen, die Welt mit den Augen der nachwachsenden Generation zu betrachten. Und dass es mehr Engagement, Partnerschaft und Zusammenarbeit gibt. Unser Planet ist zu klein, um nur auf unsere eigenen Probleme zu achten, ohne das Große und Ganze im Blick zu behalten.
Fotos: Alexander Gerst/flickr, esa
Erschienen im Tagesspiegel am 10.12.2021