Save the Children

Auf der Suche nach Fils

Nach dem Genozid in Ruanda nimmt Daphrose Mugorewindekwe einen Waisenjungen bei sich auf. 25 Jahre später trifft sie ihn wieder. Dominic Nahr ist mit der Kamera dabei

Von Andreas Monning

Es sind unvorstellbare Gewalttaten, die sich zwischen April und Juli 1994 in Ruanda abspielen. Mehr als 800 000 Menschen sterben, getötet von Angehörigen der Hutu, die in nur hundert Tagen einen Großteil der in Ruanda lebenden Tutsi sowie moderate Angehörige der eigenen Gruppe auslöschen. Über 300 000 Kinder, die ihre Eltern verlieren oder auf der Massenflucht von ihnen getrennt werden, suchen ein neues Zuhause. Eines von ihnen ist Fils. Seine Geschichte erzählen die Fotos von Dominic Nahr.

Mit Hilfe von Save the Children spürt der Kriegsfotograf dem Schicksal des Jungen nach. Fils’ Spuren finden sich in den Aufzeichnungen der Organisation, vor allem aber in den Erinnerungen einer Mitarbeiterin: Mama Daphy. Die Sozialarbeiterin betreute damals Waisen, die durch den Genozid ihre Eltern verloren hatten. Daphrose Mugorewindekwe – die so gut mit Kindern umgehen konnte, dass sie von allen nur „Mama Daphy“ genannt wurde– arbeitet heute in einem Lager für burundische Geflüchtete. Dominic Nahr nimmt Kontakt zu ihr auf und verabredet sich mit ihr im Länderbüro von Save the Children in Kigali.

Die 64-Jährige stammt aus Ruanda, lebte vor dem Genozid im benachbarten Kongo. Dorthin seien ihre Eltern nach den ersten blutigen Konflikten zwischen Hutu und Tutsi geflohen, erzählt Daphrose Mugorewindekwe. Erst 1994, als Save the Children ein Büro in Ruanda eröffnete und auch im Kongo nach Helfern suchte, kam die damals 36-Jährige zurück in ihre Heimat.
Aufnahme von 1996. Kinder wie Fils, die während des Völkermordes ihre Eltern verloren hatten, wurden von Save the Children betreut und in Pflegefamilien vermittelt.
Aufnahme von 1996. Kinder wie Fils, die während des Völkermordes ihre Eltern verloren hatten, wurden von Save the Children betreut und in Pflegefamilien vermittelt.
Als Mitarbeiterin der ersten Stunde half sie, das Länderbüro aufzubauen. „Ich wurde Sozialarbeiterin und bekam die Aufgabe, mich um Kinder zu kümmern, die im Genozid ihre Eltern verloren haben“, erzählt die gelernte Pädagogin. Viele seien getötet worden oder hätten ihre Kinder auf der Flucht verloren. Diese strandeten bei Fremden. „Familien, die während des Genozids Kinder bei sich aufgenommen hatten, konnten sie bei uns registrieren lassen“, sagt Mama Daphy. Anschließend machten sie und ihre Kollegen sich auf die Suche nach den Angehörigen. Blieb diese erfolglos, wurde nach Pflegefamilien Ausschau gehalten. „Und einmal habe ich ein Kind eine Weile bei mir aufgenommen“, erzählt Mama Daphy im Gespräch mit Dominic Nahr. „Fils“ habe es geheißen, das französische Wort für „Junge“.

Dominic Nahrs Neugier ist geweckt, zusammen mit Mama Daphy begibt er sich auf Spurensuche. Sie schauen Bilder von Kindern durch, die damals zu Save the Children gebracht, registriert und fotografiert wurden. Hunderte waren es, und die Ereignisse liegen 25 Jahre zurück. Doch irgendwann hält Mama Daphy triumphierend ein Foto hoch. Es zeigt einen kleinen Jungen, der schüchtern in die Kamera schaut: der fünfjährige Fils.

Die Sozialarbeiterin erinnert sich genau ihn: „Fils wurde damals von einem größeren Jungen aus einer Familie gebracht, die ihn aufgenommen hatte.“ Während der Registrierung sei der Ältere wie zu einem kurzen Telefonat vor die Tür gegangen – und nicht mehr wiedergekommen. „Da stand ich nun mit diesem kleinen Jungen, der herzzerreißend weinte, weil ihn jetzt auch noch sein großer ,Bruder‘ allein gelassen hatte“, erinnert sich Mama Daphy. Was tun? Die warmherzige Frau trifft einen Entschluss: „Ich habe mich entschieden, Fils zu mir zu nehmen, bis wir seine Eltern gefunden haben.“

Einige Zeit lebte der Junge in der Familie von Mama Daphy, die vier eigene Kinder hat. Als die Recherche nach Fils’ Eltern ergebnislos blieb, suchte und fand seine Pflegemutter schließlich eine Familie, die den Kleinen adoptierte.
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Der Tagesspiegel gratuliert Save the Children zum 100jährigen Jubiläum.
Den Fotografen Dominic Nahr inspirierte diese Geschichte zu einer außergewöhnlichen Idee: Was, wenn Mama Daphy und Fils sich wiederbegegnen würden, 25 Jahre nach den Ereignissen von damals? Doch niemand wusste, wo Fils heute lebt. Würden sie ihn finden? Zunächst schien das ziemlich aussichtslos. „Doch Mama Daphy erinnerte sich schließlich an den Namen des Ortes, aus dem Fils stammte“, erzählt Nahr. Wäre es vielleicht möglich, dass er als Erwachsener dorthin zurückgekehrt ist?

Dieses Vielleicht reicht den beiden Optimisten für ihre Expedition: Dominic Nahr und Mama Daphy machen sich von Kigali aus auf den Weg in den kleinen Ort Gisenyi nahe der Grenze zum Kongo. Was dort geschieht, ist so unwahrscheinlich, dass man es kaum glauben kann. Die Bewohner weisen ihnen tatsächlich den Weg zum Haus eines Mannes, auf den ihre Beschreibung passt. Unterwegs dorthin laufen der Journalist und die Save-the-Children-Mitarbeiterin Fils buchstäblich in die Arme. Mama Daphy und ihr Schützling von einst erkennen sich sofort wieder. „Vor uns stand ein freundlicher junger Mann um die 30“, erinnert sich Dominic Nahr an die Begegnung. Die Stimmung dieses unverhofften Wiedersehens nach 25 Jahren lässt sich schwer in Worte fassen. Eher schüchtern sei Fils gewesen, sagt Nahr. Einem höflichen Händedruck folgt eine Einladung zum Kaffee bei ihm zu Hause.

Die Bilder, die der Schweizer von den beiden gemacht hat und die Teil eines Foto- und Multimediaprojekts werden sollen (siehe Artikel ‚Zehn Kinder, zehn Krisen, zehn Dekaden‘), sprechen ihre eigene Sprache. Fils und Mama Daphy erzählen und halten sich dabei an den Händen. Nach wechselnden Pflegefamilien habe er sich schließlich alleine durchgeschlagen, berichtet Fils. Heute verkauft er Schuhe auf dem Markt von Gisenyi und verdient sich seinen Lebensunterhalt. Über seine Gefühle spricht er leise lächelnd: Ja, ein bisschen hoffe er immer noch, eines Tages seine Eltern wiederzutreffen.
Fotos: Dominic Nahr
Erschienen im Tagesspiegel am 16.05.2019