Behaupte dich gegen Mobbing

Wer ist hier das Opfer?

Mobbing gefährdet auch die Täter:innen, sagt Charité-Expertin Sibylle Winter. Doch nur selten erhalten sie Hilfe

Von Aleksandra Lebedowicz

Frau Winter, was bringt Kinder und Jugendliche dazu, andere fertig zu machen?
Beim Mobbing ist die Gruppendynamik entscheidend. Aber es gibt natürlich immer Anführer:innen. Sie suchen sich als Opfer meistens Kinder aus, die tendenziell schon isoliert sind. Dann funktioniert das im Prinzip über ein Machtspiel.

Die Anführer:innen suchen Beifall? Was treibt sie an?
Sie wollen bewundert werden – und das gelingt ihnen in der Regel auch, etwa, weil sie angeblich so mutig ist. Ein weiteres Motiv: Sie haben einfach Spaß daran, Macht auszuüben. Sie genießen es, wenn andere Angst vor ihnen haben. Das sind die Haupttriebfedern.

Sie haben gesagt, Mobbing ist ein Gruppengeschehen …
Das ist das Tragische daran. Es gibt nicht nur einen Täter und ein Opfer, sondern alle Beteiligten machen mit. Vielen ist das überhaupt nicht klar. Dadurch, dass sie den Täter bejubeln oder jedenfalls nicht bremsen, befördern sie die Gewaltspirale.

Beim Thema Mobbing stehen meistens die Opfer im Fokus.
Das stimmt. Niemand kümmert sich um die Täter. Dabei sind sie auch gefährdet in ihrer Entwicklung.

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Sibylle M. Winter ist Professorin für Traumafolgen und Kinderschutz der Charité und stellvertretende Direktorin der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie.

Inwiefern?
Wo soll das hinführen, wenn sie so weitermachen? Im schlimmsten Fall direkt ins Gefängnis. Sie verletzen ihre Opfer nicht nur verbal, sondern häufig auch körperlich. Wenn sie lernen, dass Aggression schnelle Befriedigung und gar Bewunderung bringt, dann ist das gefährlich.

Brauchen Mobber therapeutische Hilfe?
Oft fällt es Kindern und Jugendlichen schwer über ihre Probleme mit den Eltern zu sprechen. Es gibt Themen, die ihnen peinlich sind. Mobbing-Täter:innen sollten daher grundsätzlich eine kinder- und jugendpsychologisch-psychiatrische Diagnostik bekommen, damit die Indikation für eine adäquate Behandlung gestellt werden kann. Ein solches Regularium gibt es aber nicht.

Melden sich diese Kinder und Jugendliche in Ihrer Klinik?
Ich würde es sehr begrüßen, aber nein, leider nicht. Ich habe vorwiegend mit den Opfern zu tun.

Woran liegt das?
Eltern wehren die Vorwürfe oft komplett ab: „Das kann nicht sein; ist sicher nur ein Missverständnis; mein Sohn oder meine Tochter sind gar nicht so schlimm…“

…jeder will ein tolles Kind haben.
Mütter und Väter machen dabei einen Grundfehler: Sie fühlen sich für das Verhalten ihrer Kinder verantwortlich. Doch das sind sie nicht unbedingt – viele Faktoren spielen bei der Entstehung von Verhaltensauffälligkeiten eine Rolle. Eltern können nicht alles beeinflussen. Dieses Denken sollte man unbedingt ablegen. Es ist kontraproduktiv und führt genau dazu, dass Eltern Mobbing-Vorfälle eher abstreiten.
Mein Kind mobbt. Eltern wollen die traurige Erkenntnis oft nicht wahrhaben, weil sie sich schuldig fühlen. Anstatt Mobbing-Vorfälle abzustreiten, sollten sie jedoch mit dem Kind ins Gespräch kommen – und fachlichen Rat einholen.
Mein Kind mobbt. Eltern wollen die traurige Erkenntnis oft nicht wahrhaben, weil sie sich schuldig fühlen. Anstatt Mobbing-Vorfälle abzustreiten, sollten sie jedoch mit dem Kind ins Gespräch kommen – und fachlichen Rat einholen.
Was können Eltern also tun?
Mit dem Kind ins Gespräch kommen und versuchen nachzuvollziehen, was geschehen ist. Ich würde empfehlen, das Kind genau aufschreiben zu lassen, was sich zugetragen hat und wie es dazu kommen konnte. Was war davor und danach. Dann kann man das gemeinsam besprechen. Wir nennen das Verhaltensanalyse – eine sehr wirksame Methode, die man auch zu Hause einsetzen kann. Wer sich das nicht zutraut, kann fachlichen Rat einholen.

Wann sollte man eine Psychotherapeut:in oder Psychiater:in aufsuchen?
Je jünger die Kinder, desto besser. In der Pubertät wird’s kompliziert. Wenn Jugendliche ein grundsätzliches Selbstwertproblem und Aggression als Problemlösestrategie verinnerlicht haben, um durch den Tag zu kommen, dann ist es schwer, aus diesem Kreislauf wieder auszubrechen. Da wäre sicher eine Psychotherapie indiziert. Wenn die Betroffenen sehr impulsiv sind, käme zusätzlich Medikation infrage.

Woran erkennen Eltern, dass ihr Kind mobbt?
Ich fürchte, gar nicht. Meist erfahren sie es als letzte. Wenn sich das gemobbte Kind irgendwann seiner Familie anvertraut – oft ist da schon sehr viel Zeit vergangen –, wird zunächst die Schule informiert und dann am Ende die Eltern des Täters. In der Regel verlassen auch Gemobbte die Schule, nicht die Mobber. Auch wenn es im Gewaltschutzordner des Senats die eindeutige Empfehlung gibt, dass die Täter:innen gehen sollten.

Manchmal werden gemobbte Schüler in eine Parallelklasse versetzt.
Trotzdem löst es nicht das Problem, denn der Schulhof ist gemeinsam. Da passiert aus meiner Sicht noch zu wenig.

Ist es beim Cybermobbing komplizierter?
Ja. Vor allem Gruppenchats sind heikel. Da sind manchmal sehr problematische Inhalte im Umlauf, Bilder und Beschimpfungen. Wer die neuen Medien benutzt, muss im Prinzip noch sozial kompetenter sein, weil es dabei einfach viel schneller zu Missverständnissen kommt. Wenn Mimik und Gestik fehlen, ist keine Feinjustierung in der Kommunikation mehr möglich.
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Sollten Eltern Kinder fürs Mobben bestrafen?
Grundsätzlich ist das keine gute Idee. Es sei denn, man denkt sich eine pädagogisch besonders wertvolle Strafe aus. Aus meiner Sicht geht es viel eher um Verstehen und darüber in Beziehung zu kommen.


Kein Handyverbot?
Das ist nur im Ausnahmefall hilfreich, ansonsten ein absolutes No-Go. Für Kinder und Jugendliche sind die Geräte heute ein wesentlicher Teil ihrer Intimsphäre, das ist, wie keine Freunde mehr sehen. Ich persönlich halte von Verboten nicht viel und bin eher eine Vertreterin von Wiedergutmachung.

Was könnten Mobbing-Täter:innen tun?
Sie können dem Opfer einen Brief schreiben, Blumen oder Schokolade schicken. Sie können auch für die ganze Klasse Kuchen backen und sich bei allen entschuldigen. Durch Mobbing leiden schließlich alle Mitschüler, denn sie wissen, dass Unrecht passiert.

Und wenn das Kind sich partout weigert, zu kooperieren?
Natürlich kann es sein, dass sich die Täter:innen allem verweigern. Das ist kein gutes Zeichen für die Empathiefähigkeit. Dennoch würde ich versuchen, dranzubleiben und mit dem Kind immer wieder darüber ins Gespräch zu kommen.

Frau Winter, worauf muss man achten, damit es gar nicht erst soweit kommt?
Prävention, Prävention und nochmal Prävention. Man muss den Kindern die Dynamiken aufzeigen. Wenn Mobber keine Bewunderer haben und Kinder sich generell immer auf die Seite des Schwächeren stellen, damit niemand isoliert wird, können sich solche Vorfälle gar nicht entwickeln. Da muss in den Schulen noch viel mehr laufen.
Fotos: Getty Images; Peitz/Charité
Erschienen im Tagesspiegel am 22.02.2021