Behaupte dich gegen Mobbing

Ich spiel’ nicht mehr mit

Eine neue Studie hat Langzeit-Bullying aus Sicht der Betroffenen untersucht. Die Ergebnisse liefern wertvolle Hinweise für bessere Präventionslösungen

Von Aleksandra Lebedowicz

Kurz nach Schulbeginn ging es los. „Ein beliebter Junge nannte mich Rotznase“, berichtet Max, der inzwischen erwachsen ist. „Ich ignorierte ihn, aber bald nannten mich alle so. Dann eskalierte es. Sie beschimpften mich mit Ausdrücken, die ich hier nicht wiederholen möchte.“

Max, der in seiner Schulzeit mehr als sechs Jahre lang ausgegrenzt, beleidigt und gedemütigt wurde, ist einer der Teilnehmer der neuen Studie „Abwärtsspirale von Bullying“, die vor drei Wochen veröffentlicht wurde. Sie untersucht die subjektive Wahrnehmung von Mobbing, auch Bullying genannt, durch Betroffene. Solche Befragungen mit Opfern von Langzeit-Schikanen seien immer noch rar. „Es ist unheimlich schwierig, an diese Menschen heranzukommen“, sagt Malgorzata Wojcik, Studienautorin und Mobbing-Expertin von der Universität für Sozial- und Geisteswissenschaften SWPS in Oberschlesien. Die polnische Psychologin entwickelt mit ihrem Team Präventionsprogramme für Kinder und Jugendliche.
Aufhören – aber wie? Mobbing, auch Bullying genannt, ist ein soziales Spiel, in das viele Jugendliche verwickelt werden können. Es ist schwierig, aus der jeweiligen Rolle auszubrechen.
Aufhören – aber wie? Mobbing, auch Bullying genannt, ist ein soziales Spiel, in das viele Jugendliche verwickelt werden können. Es ist schwierig, aus der jeweiligen Rolle auszubrechen.
„Europäische Schulen, außer vielleicht in Finnland, sind mit ihrer hierarchischen Struktur eine Bühne für Bullying“, sagt Wojcik. Ihre aktuelle Studie zeichnet den Prozess der Viktimisierung, des Zum-Opfer-Werdens, aus Sicht der Betroffenen detailliert auf: Angefangen bei ersten diffusen Angriffen bis hin zu permanenten Schikanen.

Eine wichtige Erkenntnis der Tiefeninterviews: Die Opfer sind dem Mobbing nicht passiv ausgeliefert, sondern versuchen vielmehr, aktiv mit den Angriffen umzugehen. Mit der Zeit entwickeln sie eine Tendenz, die in der Psychologie als „feindselige Attribution“ genannt wird. „Sie neigen dazu, anderen Personen böse Absichten zu unterstellen und selbst harmlose Situationen als Bedrohung zu interpretieren“, erläutert Wojcik. Das habe schwerwiegende Folgen und sei der Grund, weshalb die Opfer von Langzeit-Mobbing auch nach einem Schulwechsel aus diesem Teufelskreis nicht entkommen. Einer der Opfer sagte, er habe „Antennen“ entwickelt, die ständig sein soziales Umfeld durchsuchten und Warnzeichen auffingen. Er sei auch heute immer wachsam und bereit zu fliehen.

Die Ergebnisse der Studie liefern wertvolle Hinweise für bessere präventive Strategien. Demnach sind erste Angriffe ausschlaggebend. „Das ist der Moment, wo andere Mitschüler Stellung beziehen müssen und sich die Rollen aller Beteiligten herauskristallisieren“, sagt Wojcik.

Bereits ihre frühere Studie „The Game of Bullying“, die im vergangenen Herbst veröffentlicht wurde, hat die Rollen von Bullys, Unterstützern, Zuschauern und Opfern in Mittelschulklassen untersucht. Alle Schüler gaben an, sich ihres Handelns bewusst zu sein. Dennoch fanden sie es schwierig, aus den jeweiligen Rollen auszubrechen.
Malgorzata Wojcik
Malgorzata Wojcik
„Wirksame Strategien gegen Bullying und Mobbing machen nur Sinn, wenn alle Beteiligten involviert werden“, sagt Wojcik. Bullying sei ein soziales Spiel, in das auch ganz normale Kinder verwickelt werden könnten. Alle verfolgen dabei das gleiche Ziel: „Niemand will als Außenseiter enden“, sagt die Psychologin.

Die neue Studie mit Langzeitopfern zeigt die innere Dissonanz, die dieses Spiel bei den Gemobbten hervorruft. Einige arbeiteten mit den Tätern zusammen, indem sie etwa über ihre Witze lachten. Gleichzeitig litten sie und gerieten in Panik – sie waren bereit, alles zu tun, um akzeptiert zu werden. Einer der Opfer berichtete: „Ich tat so, als würde ich Greg (den Mobber) mögen, und es war nur ein Spiel zwischen uns. Aber ich wusste die ganze Zeit, dass es ernst und schmerzhaft war.“

Besonders Jungs versuchen in solchen Situationen „cool zu bleiben“, stellt Wojcik fest. Mädchen ziehen sich eher zurück. Die Psychologin plädiert dafür, die Opfer beim Schulwechsel noch gezielter zu stärken. „Sie haben oft nicht die Fähigkeit, sich ausgelassen mit Gleichaltrigen zu unterhalten und Freundschaften zu schließen“, sagt sie. Einzelne Täter:innen zu bestrafen, haltet sie dagegen für wenig hilfreich. Das verschärfe die Situation, weil Mobber als Märtyrer gelten und ihre Unterstützer sich rächen wollen.

Auch wenn manche Opfer durch das Homeschooling sicher erleichtert aufatmen konnten, geht Malgorzata Wojcik davon aus, dass die Pandemie Cybermobbing eher verschärft hat. „Eindeutige Antworten haben wir aber noch nicht“, sagt die Expertin.
Fotos: Getty Images; SWPS Universität
Erschienen im Tagesspiegel am 22.02.2021