Vererben & Stiften 2020

Weckruf für die Zivilgesellschaft

In jüngster Zeit wird die Demokratie gezielt angegriffen. Stiftungen sorgen sich – und fördern ein Miteinander in Deutschland

Von Joachim Rogall

Die Frage des gesellschaftlichen Zusammenhalts ist in letzter Zeit häufig auf der Tagesordnung. Zuletzt haderte die Schriftstellerin Juli Zeh in einem Podcast mit dem Begriff und meinte: „Ich frage mich halt manchmal, ob dieser Gedanke an Zusammenhalt eh eine Komplett-Fiktion ist. Also ist gesellschaftlicher Zusammenhalt vielleichtschon die Abwesenheit von Bürgerkrieg?“ Diese provokative Zuspitzung Juli Zehs war Ausgangspunkt meiner folgenden Überlegungen. Für mich beruht gesellschaftlicher Zusammenhalt auf stabilen sozialen Beziehungen, Gemeinwohlorientierung, Diskussions- und Kooperationsbereitschaft sowie gemeinsamen demokratischen Werten und Normen.

Ist unsere Gesellschaft heute wirklich, angesichts der Herausforderungen durch Extremisten, Ungleichheit, Desinformation und Chancenungerechtigkeit, an einem Punkt, an dem wir schon froh sein müssen, wenn sich nicht alle die Köpfe einschlagen?

Für mich ist die provokative Zuspitzung Juli Zehs vor allem ein Weckruf angesichts der aktuellen gezielten Angriffe auf unseren gesellschaftlichen Zusammenhalt und unsere Demokratie. Ein Weckruf für uns als Zivilgesellschaft, insbesondere als Stiftungen, zu überlegen, was wir (noch) tun können, um das Zusammengehörigkeitsgefühl und das gemeinsame Einstehen für etwas in unserem Land zu stärken.

Gesellschaftlicher Zusammenhalt setzt Begegnungen, Debatten und gemeinsames Arbeiten voraus. Auch die Bereitschaft, anderen zuzuhören, unterschiedliche Meinungen zu tolerieren, den Respekt vor der Menschenwürde des anderen zu zeigen, den das Grundgesetz mit Recht an den Anfang und unter seinen besonderen Schutz gestellt hat.

Die dafür notwendigen Begegnungsräume, verstanden als physische Orte, sind uns in den vergangenen Monaten verschlossen geblieben – wie Reisen, Kulturveranstaltungen und Konferenzen, aber auch das Kaffeetrinken am Rande, die spontane Begegnung, der Austausch. Manches ist inzwischen wieder geöffnet, einiges wird wohl dauerhaft geschlossen bleiben, und wieder anderes wird in eine neue, digitale Form umgewandelt.

„Es ist kein Privileg reicher alter Leute, es kommt aus der Mitte der Gesellschaft“

Das Schaffen weiterer Begegnungsräume als Beitrag der Zivilgesellschaft in den vielen Projekten und Programmen ist heute wichtiger denn je. Hier können Stiftungen nachhaltig wirken. Die Frage des gesellschaftlichen Zusammenhalts rührt an unsere Grundfesten. Für Stiftungen gehört die Förderung demokratischer Werte zum Selbstverständnis, auch im ureigensten Interesse. Denn nur in demokratischen Verhältnissen können Stiftungen erfolgreich arbeiten. Damit haben sie als Kernaufgabe, solche Räume zu ermöglichen und einzuladen, diese zu nutzen. Stiftungen sind schnell, oft unbürokratisch und häufig unkonventionell in ihren Aktionen.

Beispielhaft zeigt dies das Wirken von Stiftungen in der Corona-Pandemie: Stiftungen sind Stabilisatoren für ihre Partner, indem sie ihre Förderungen aufrechterhalten, obwohl Veranstaltungen vorerst nicht stattfinden und Projekte nicht wie geplant realisiert werden können. Stiftungen sind Mutmacher, etwa mit der großartigen Freiluftkonzertreise deutscher Bürgerstiftungen mit dem Star-Organisten Cameron Carpenter zu Seniorenheimen. Stiftungen sind Unterstützer, etwa durch Notfallfonds für Kulturschaffende, aber auch für Obdachlose und andere Bedürftige.

Nirgends auf der Welt sind Stiftungen so vielfältig wie in Deutschland – schon mit Blick auf die Vielzahl der Rechtsformen. Diese Vielfalt macht es uns nicht leicht, in der Öffentlichkeit ein differenziertes Bild von Stiftungen zu vermitteln. Zugleich ist diese Vielfalt unser größtes Pfund. Wer immer in Deutschland stiften will – Privatpersonen, Staat, Wirtschaft –, er wird das passende Instrument dafür finden. Der Erfolg von Bürger- und Gemeinschaftsstiftungen zeigt, dass Stiftungen kein Privileg alter reicher Menschen sind, sondern aus der breiten Mitte unserer Gesellschaft kommen. Sie gehören zur DNA der Demokratie.

Neben der Vielfalt an Stiftungsstrukturen ist die Vielfalt der Stiftungsthemen stabilisierend für unser Gemeinwohl. Gerade weil jeder Bürger stiften, seine Lebenserfahrungen, Erlebnisse und auch Wahrnehmung von Lücken in eine Stiftung überführen kann, genießen wir alle gemeinsam das Privileg einer reichhaltigen Stiftungslandschaft.

Wenn Stiftungen sich als Förderer des gesellschaftlichen Zusammenhalts engagieren, müssen sie sich auch mit der gesellschaftlichen Reaktion auf ihr Handeln beschäftigen. Stiftungen müssen sich öffentlicher Kritik stellen und lernfähig bleiben. In den USA, in Frankreich aber auch in Deutschland wird über Legitimität, Ungleichheit, Macht und Transparenz von Stiftungen schon seit Längerem debattiert. Ich finde, Stiftungen sollten selbst besonders kritisch ihre Wirkung und ihre Arbeit hinterfragen.

„Noch fehlt ein staatliches Stiftungsregister. Die Politik muss endlich handeln“

Stiftungen können einen anderen Beitrag als Politik oder Wirtschaft leisten, weil sie nicht auf Wahltermine oder Quartalsberichte fokussiert sein müssen. Diesem Privileg und der damit verbundenen Verantwortung für nachhaltiges Handeln werden wir nicht immer gerecht. Wenn wir die Vielfalt der Stiftungsformen als Abbild unserer Gesellschaft preisen, so wissen wir auch, dass bezüglich der Diversität der Stiftungsgremien, der Stiftungsmitarbeiter und der Ehrenamtlichen in Stiftungen häufig noch Luft nach oben ist.

In den USA konstatierte Phil Buchanan, Präsident des Center for Effective Philanthropy: „People who bring a range of backgrounds – including race but also extending to many other elements including disability, socio-economic history, and life experience – are better positioned to help a foundation choose goals and chart the strategies to achieve them.“ Das gilt auch für unser Stiftungswesen.

In den Grundsätzen guter Stiftungspraxis, welche die Mitglieder des Bundesverbandes Deutscher Stiftungen im vergangenen Jahr aktualisiert haben, steht: „Stiftungen streben an, in ihrer Arbeit Geschlechtergerechtigkeit umzusetzen und die Chancen von Diversität wahrzunehmen". Die Diskussion darüber unter den Mitgliedern war durchaus kontrovers, von der Frage, ob das für Stiftungen überhaupt relevant sei auf der einen Seite bis zur Frage, ob „anstreben“ der Dringlichkeit gerecht werde, auf der anderen Seite. Am Ende haben die Mitglieder des Bundesverbands mehrheitlich diese Grundsätze, wie übrigens auch die zu Nachhaltigkeit, einer offenen, demokratischen Gesellschaft oder der Teilhabe am gesellschaftlichen und technologischen Wandel verabschiedet und damit im Denken und Handeln vieler Stiftungen verankert.

Stiftungen müssen die Lehren aus der Corona-Krise verinnerlichen. Sie haben sich in den vergangenen Monaten beispielhaft bewährt. Die Welle der Solidarität, der unbürokratischen und in Rekordgeschwindigkeit ins Leben gerufenen Hilfspakete und Solidarfonds, der Wechsel von Präsenzarbeit ins Homeoffice und in virtuelle Video-Besprechungen vieler Stiftungsgruppen, das Teilen von Lernerfahrungen, das Einholen der Perspektiven von Geförderten und die gemeinsame Nutzung von Ressourcen waren Sternstunden des Sektors. Wenn wir in hoffentlich naher Zukunft aus dem Krisenmodus in den Neue-Normalität-Modus schalten können, müssen wir gemeinsam kluge Strategien haben, um diese gelungene Krisen-Stiftungsarbeit in eine bessere neue Normalität der Stiftungsarbeit zu überführen. Flexibles Arbeiten und das Teilen von Wissen, Ressourcen und Strategiekompetenzen gehören in den Instrumentenkasten aller Stiftungen.
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Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz
Ändern sollte sich auch die staatliche Haltung gegenüber Stiftungen. Denn öffentliche Institutionen tun sich mitunter noch schwer damit, die Systemrelevanz des gemeinnützigen Sektors anzuerkennen. Es brauchte erst die Interventionen einer breiten Allianz gemeinnütziger Dachverbände und Organisationen, damit zivilgesellschaftliche Akteure in das Corona-Konjunkturpaket aufgenommen wurden.

Wir als Bundesverband deutscher Stiftungen setzen uns weiter dafür ein, dass allen gemeinnützigen Organisationen der Zugang zu Schutzschirmen offensteht, wenn sie aufgrund von Corona in Not geraten sind. Das Verständnis der Systemrelevanz des gemeinnützigen Sektors wird auch gefördert durch die Transparenz darüber, welche Organisationen des gemeinnützigen Sektors es eigentlich gibt.

In Deutschland haben sich Stiftungen selbst für mehr Transparenz starkgemacht und dies über freiwillige Selbstverpflichtungen, eine Stiftungsdatenbank und Grundsätze guter Stiftungspraxis umgesetzt. Ein staatliches Stiftungsregister und ein Gemeinnützigkeitsregister hingegen sind seit Jahren in der Prüfung, aber verharren genauso im politischen Warteraum wie die damit verbundene Stiftungsrechts- bzw. Gemeinnützigkeitsrechtsreform. Die große Koalition, die Politik insgesamt muss hier endlich handeln.

Ich bin überzeugt: gesellschaftlicher Zusammenhalt ist keine Utopie. Die Fähigkeit, trotz zunehmender Vielfalt gemeinsames Engagement, gegenseitiges Verständnis und Toleranz zu erreichen und zu fördern ist ein Gradmesser für die Demokratiefähigkeit unserer Gesellschaft. Je mehr Begegnungsräume Stiftungen schaffen, desto stärker ist ihr Beitrag zum Zusammenhalt und desto stabiler ist unsere Demokratie. Stiftungen müssen daher ihre Stimme erheben und aktiv durch ihre Arbeit für mehr Zusammenhalt und für unsere Demokratie eintreten. Dafür braucht es neben bestmöglichen rechtlichen Rahmenbedingungen die stete Bereitschaft der Stiftungen, immer neu zu lernen und besser werden zu wollen.
                        

Zur Person

Für Zusammenhalt

Joachim Rogall
Joachim Rogall
Prof. Dr. Joachim Rogall ist seit 2018 Vorstandsvorsitzender im Bundesverband Deutscher Stiftungen und seit 2017 Vorsitzender der Geschäftsführung der Robert Bosch Stiftung GmbH. Er studierte Osteuropäische Geschichte, Slawische Philologie und Germanistik. Seit 2003 ist er außerplanmäßiger Professor für Osteuropäische Geschichte der Universität Heidelberg. Tsp
Fotos: imago/All Canada Photos; www.bopicture.de
Erschienen im Tagesspiegel am 13.09.2020