Berlin und Brandenburg könnten viel mehr erreichen, wenn sie intensiver zusammenarbeiten würden. Doch die Vernunft muss durch Leidenschaft ergänzt werden / Ein Gastbeitrag

Von Christian Amsinck

Noch ist bei Tesla in Grünheide kein Auto vom Band gelaufen. Doch mit jedem Tag wird deutlicher, wie sehr das neue Elektroauto-Werk Brandenburg und auch Berlin verändern wird. Schon geht eine ganze Reihe namhafter Ansiedlungen in der Region mit hunderten Arbeitsplätzen auf die neue Gigafactory zurück. Auch bereits ansässige Zulieferer profitieren. Nun kommt noch eine Lithium-Raffinerie hinzu. Schon bald werden alle wichtigen Bestandteile von Batterie-Autos in der Mark produziert – kaum zwei Jahre nach der Entscheidung von Elon Musk, im Speckgürtel der Hauptstadt investieren zu wollen.

Der Entschluss für den BER liegt schon weiter zurück. Mit dem Abklingen der Pandemie wird die Bedeutung des Flughafens Tag für Tag deutlicher. Nicht nur die Fluggastzahlen steigen, auch im Umfeld des Airports regt sich einiges. Firmen aus verschiedenen Branchen siedeln sich an, Büros und Wohnungen im großen Stil werden gebaut, die Einwohnerzahlen von angrenzenden Kommunen wie Schönefeld, Schulzendorf oder Zeuthen zeigen steil nach oben. Schon werden die Gewerbeflächen knapp.

Tesla und der BER – das sind aus wirtschaftlicher Sicht derzeit die Leuchtturm-Projekte der Hauptstadtregion. Sie sorgen für Dynamik und Arbeitsplätze dort, wo beides dringend gebraucht wird. Und sie zeigen, dass Berlin und Brandenburg einander ideal ergänzen. Obwohl sich die meisten Offiziellen scheuen, allzu innige Bekenntnisse zur Zusammengehörigkeit abzugeben.

Das ist unverständlich – denn im Team könnten beide Länder noch viel mehr erreichen. Die Hauptstadtregion mit mehr als sechs Millionen Einwohnern vereint viele und vielfältige Stärken in sich: Berlin steht für Urbanität, für Großstadtgefühl, für eine dynamische Start-up-Szene, für eine innovative Industrie und eine exzellente Wissenschaftslandschaft.

Es steckt noch viel Sand im Getriebe

Brandenburgs Markenkern ist ein großzügiges Flächenangebot und eine hohe Lebensqualität. Und mittlerweile mehr als das: Die Ansiedlung neuer, zukunftsweisender Industrien zeigt, dass sich das Land im Aufbruch befindet und selbstbewusst auftreten kann. Passé ist die Zeit, in der Brandenburg im Vergleich zu Berlin als halb so hip und doppelt so alt galt.

In der Praxis steckt aber Sand im Getriebe zwischen Berlin und Brandenburg. Die Abstimmung auf vielen Feldern der Politik könnte besser laufen. Die Unternehmen sehen die Region seit jeher als einheitlichen Wirtschaftsraum, in dem Ländergrenzen keine Rolle spielen. Für Politik und Verwaltungen dagegen sind sie oft eine hohe Barriere. Die Entscheider bräuchten mehr Mut, diese zu überwinden.

Das zeigt sich nirgends so deutlich wie beim Wohnungsbau. In der Hauptstadt fehlen Wohnungen gerade im unteren und mittleren Preissegment, die sich auch Facharbeiterinnen und Facharbeiter leisten können. Der politische Wille, das Problem durch mehr Neubau zu lösen, ist in Berlin nicht sehr ausgeprägt. Manche setzten stattdessen auf gefährliche Experimente wie Enteignungen – oder darauf, dass die Baubranche schon ins benachbarte Brandenburg ausweichen und dort Angebote schaffen wird.

Was sie auch tut. Das Problem: Wer in den Speckgürtel zieht, pendelt meist zum Arbeiten nach Berlin. Für 225 000 Menschen gehört das mittlerweile zum Alltag, Tendenz steigend. Die Infrastruktur wächst aber nicht im erforderlichen Maß mit. Das Streckennetz der Schienen, ob für die S-Bahnen, die U-Bahnen oder die Regionalzüge, ist in den vergangenen 30 Jahren kaum gewachsen. Dabei wäre auch angesichts des notwendigen Klimaschutzes ein Ausbau dringend nötig, samt digitaler Vernetzung.

Doch die Verlängerung und Ertüchtigung von Verbindungen wird von allen Beteiligten offenbar als eine Generationenaufgabe angesehen, nicht als ein Projekt, das es zügig durchzuziehen gilt. Kein Wunder, hat sich die Verkehrspolitik in Berlin bislang lieber um Pop-up-Radwege in der Innenstadt gekümmert statt um zusätzliche ÖPNV-Kapazitäten und engere Takte jenseits des S-Bahn-Rings. Nicht einmal der Ausbau von Park-and-Ride-Parkplätzen am Stadtrand war dem Senat wichtig.

Potential gibt es genug, etwa beim Klimaschutz

Immerhin, mit dem Programm „i2030“ gibt es zumindest ein Konzept für den Ausbau der Strecken mit den größten Engpässen, nach Nauen, Potsdam, Cottbus oder Frankfurt (Oder). Doch viele dieser Projekte stecken erst im Entwurfs- oder Prüfungsstadium. Zudem mahlen die Mühlen der Planungs- und Genehmigungsbürokratie langsam. So kommt es, dass selbst der Wiederaufbau des zweiten Bahn-Gleises Richtung Cottbus, das die Russen nach dem Krieg demontiert hatten, Jahre dauert. 2016 haben Bund und Bahn das 29 Kilometer umfassende Vorhaben beschlossen, fertig werden soll es erst Ende 2027.

Das ist viel zu lange. Soll es klappen mit der Stärkung des umweltfreundlichen öffentlichen Verkehrs, brauchen wir mehr Tempo. Davon würde auch der Arbeits- und Ausbildungsmarkt in der Region profitieren. Auch hier gilt: Grenzen stehen auf dem Papier, in der Praxis spielen sie für viele Betriebe, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer kaum eine Rolle.

Anders in der Politik. Den Ausbildungsmarkt etwa betrachten die Berliner Arbeitssenatorin und der Brandenburger Arbeitsminister streng nach ihrem jeweiligen Hoheitsgebiet. Dabei suchen in der Hauptstadt aktuell noch 6000 junge Leute einen Ausbildungsplatz, während die Unternehmen in Brandenburg für mehrere tausend Lehrstellen gerne geeignete Bewerber unter Vertrag nehmen würden. Nötig wäre ein verbindender Ansatz. Warum beispielsweise werben die Länder nicht gemeinsam mit einer Kampagne für die duale Ausbildung, mit Betrieben diesseits wie jenseits der Landesgrenze?

Wohnen, Verkehr, Arbeit: Diese Bereiche stehen exemplarisch für viele Politikfelder, in denen die Zusammenarbeit mindestens ausbaufähig ist. In der Energiepolitik wollen beide Länder klimaneutral werden, nehmen von den Plänen des Nachbarn aber nur wenig Notiz. In Sachen Digitalisierung schrauben beide an ihren eigenen Strategien für die Transformation. An den Schulen gibt es noch nicht einmal einheitliche Rahmenlehrpläne. Dabei geht es doch beiden Ländern darum, die jungen Menschen mit den bestmöglichen Chancen ins Berufsleben zu schicken.

Hoffnung macht, dass sich Berlin und Brandenburg nun gemeinsam auf den Weg gemacht haben. Im April haben sie eine Entwicklungsstrategie mit dem Titel „Strategischer Gesamtrahmen Hauptstadtregion“ beschlossen. Über Monate haben Beamte, aber auch Interessengruppen und Bürgerinnen daran gearbeitet. Herausgekommen ist eine lange Vorhabenliste mit mehr als 50 Projekten aus vielen Politikfeldern. Sie soll bis 2030 abgearbeitet sein.

Vom Kopf zum Herz Image 2
Christian Amsinck ist Hauptgeschäftsführer der Unternehmensverbände

In den neunziger Jahren sind bereits Dutzende gemeinsame Institutionen und Behörden entstanden, vom Rundfunk Berlin-Brandenburg über das Statistikamt und die Rentenversicherung bis hin zu den Gerichten. Es gibt eine gemeinsame Innovationsstrategie mit zukunftsträchtigen Clustern, von Verkehr über Gesundheit bis hin zu Optik und Medien. Der Gesamtrahmen ist nun ein neuer Impuls und ein echtes Bekenntnis zur Zusammenarbeit. Den Grundgedanken, dass Berlin und Brandenburg nur gemeinsam im Standortwettbewerb bestehen, begrüßen wir ausdrücklich.

Entscheidend ist nun, dass das Vorhaben nicht in den Schubladen der Ministerien endet, sondern mit Leben gefüllt wird. Darum müssen sich die Chefinnen und Chefs der Regierungen kümmern. Der Beginn der Legislaturperiode in der Hauptstadt bietet eine gute Chance für ein neues Miteinander. Bei zwei gemeinsamen Kabinettssitzungen pro Jahr muss es beispielsweise nicht bleiben. Denkbar ist auch ein gemeinsamer Ausschuss beider Länder-Parlamente, ebenso wie Staatssekretäre oder Staatssekretärinnen, die sich ausschließlich um länderübergreifende Zusammenarbeit kümmern.

Potenzial gibt es noch zur Genüge – in der Hochschul- und Forschungspolitik, bei der Entwicklung neuer Technologien zum Klimaschutz, in der Gesundheitspolitik und sogar beim Kohleausstieg. Die Lausitz steckt im Umbruch von der Energie- zur Technologie-Region. Der Bund und das Land Brandenburg fördern den Strukturwandel mit viel Geld. Berlin könnte sich mit Know-how und Konzepten hier noch stärker beteiligen. Es gibt etwa die Idee einer Innovationsachse vom Technologiezentrum Berlin-Adlershof über den BER und Lübben bis nach Cottbus. Hier könnten die Firmen Wissen austauschen, neue Flächen für ihre Beschäftigten zum Arbeiten und Wohnen finden, die in der Hauptstadt knapp werden.

Entscheidend ist aber, dass das Thema Berlin und Brandenburg in Zukunft mehr ist als nur Kopfsache. Es geht darum, die Herzen zu erreichen. Die Hauptstadtregion muss ein neues Gefühl der Zusammengehörigkeit entwickeln. Zu kooperieren, nur weil es wirtschaftlich vernünftig ist, wird nicht dauerhaft wirken. Es geht um Leidenschaft, um die Erkenntnis, dass eine Region gemeinsam mehr erreichen kann als zwei Länder für sich. 30 Jahre nach der deutschen Einheit ist es an der Zeit, dass dieser Gedanke Fuß fasst in Berlin und Brandenburg.

— Die Vereinigung der Unternehmensverbände in Berlin und Brandenburg e.V. (UVB) ist ein wirtschafts- und sozialpolitischer Dachverband in der Region. Ihr gehören rund 60 Wirtschafts- und Arbeitgeberverbände aus Berlin und Brandenburg an.
Fotos: Paul Zinken/dpa, Ralf Günther
Erschienen im Tagesspiegel am 22.10.2021