Diversity 2019

Theater, öffne dich!

Die Stadtgesellschaft ist bunt, die Kulturlandschaft noch nicht. Der Fonds „360°“ soll das ändern

Von Rolf Brockschmidt

Migration hat es in der Menschheitsgeschichte immer gegeben. Menschen saßen nie still, sie haben Handel getrieben, Gebiete erobert, waren neugierig und aufgeschlossen für Neues. Besonders in Städten wird die Vielfalt der Gesellschaft sichtbar. Aber findet sich diese Vielfalt auch in den Kulturinstitutionen wieder? Gehen Theater, Museen, Orchester und Bibliotheken auf die Bedürfnisse einer bunten Stadtgesellschaft ein? Kennen sie diese Bedürfnisse überhaupt?

Um diese Fragen zu beantworten, hat die Kulturstiftung des Bundes das Programm „360˚ – Fonds für Kulturen der neuen Stadtgesellschaft“ aufgelegt. Bis 2023 fördert das Programm 16 Museen, 13 Theater, acht Bibliotheken, eine Musikschule und ein Symphonieorchester mit insgesamt 13,9 Millionen Euro. „360˚ ist ein sehr anspruchsvolles Programm“, sagt Hortensia Völckers, seit 2002 künstlerische Direktorin und Vorstandsmitglied der Kulturstiftung des Bundes. Es läuft bundesweit und richtet sich an Kultureinrichtungen aller Sparten. „Wir wollen die Institutionen darin unterstützen, auch jene Teile der postmigrantisch geprägten Stadtgesellschaften für sich zu gewinnen, die bislang vergleichsweise wenig Beachtung fanden, sei es als Publikum, sei es bei Stellenbesetzungen oder auch in den Veranstaltungsangeboten.“ Die geförderten Institutionen bekommen sogenannte 360˚-Agenten und Agentinnen, die den Auftrag haben, passgenau für das jeweilige Haus Ideen zu entwickeln, wie Publikum, Programm und Personal vielfältiger werden können.

Dabei gehe es nicht nur um Teilhabe, „sondern echte Beteiligung an Gestaltungsprozessen. Mit Generosität ist es nicht getan“, betont Völckers. Kulturinstitutionen müssen ganz grundsätzlich dazu bereit sein, sich im Hinblick auf Diversität zu überdenken. Auf diese Bereitschaft hat die Kulturstiftung des Bundes bei der Antragsbewilligung streng geachtet.

Stefan Weber, Direktor des Museums für Islamische Kunst in Berlin, arbeitet schon länger an diesem Thema. 50 Prozent der Mitarbeiter des Museums hätten einen migrantischen oder ausländischen Hintergrund. So hat das Museum für Islamische Kunst 2015 etwa das Projekt „Multaka“ ins Leben gerufen, bei dem Geflüchtete zu Museumsführern ausgebildet wurden. „Dabei haben wir gelernt, dass soziale Kompetenz wichtig ist, um Wissenschaft in die Gesellschaft zu übersetzen“. Wenn Frauen mit Frauengruppen auf Arabisch redeten, hätten sie einen anderen Zugang, als wenn er, Stefan Weber, sie auf Arabisch durch die Ausstellungen führe. „Wir müssen die Erfahrungen von Multaka in die Museumspraxis übersetzen“, sagt Weber. Sein Grundsatz: Nicht alles für jeden, aber für jeden etwas. Er will eine andere Tiefe der Ansprache und ein anderes Publikum erreichen. Das ist die Aufgabe seiner 360˚-Agentin Nushin Atmaca, einer Islamwissenschaftlerin, die schon seit 2017 in einem Outreach-Projekt am Museum gearbeitet hat und sich die Stelle mit der Kultur- und Sozialanthropologin Dolly Abdul Karim teilt. „Unser Haus erklärt das ,Fremde’. Da müssen sich auch ,die anderen’ einbringen können, sie müssen sich angesprochen fühlen“, sagt Atmaca. Das Museumspersonal müsse vor allem die diverse Stadtgesellschaft noch besser abbilden, um unterschiedliche Sichtweisen zu zeigen. „Mir geht es auch darum, die Arbeitswelt Kulturinstitution nach außen sichtbar zu machen“, sagt sie. Das ermutige junge Menschen mit Migrationshintergrund, sich für diese Arbeitswelt zu interessieren.

Am Staatlichen Museum für Archäologie Chemnitz arbeitet Attila Bihari als 360˚-Agent. Nach zwei Jahren in der Geflüchtetenhilfe in Hamburg weiß er, wie schwer es ist, Menschen in Arbeit zu bringen. „Wir haben jetzt einen Geflüchteten aus Syrien in unser Aufsichtsteam vermitteln können“, erzählt er mit gewissem Stolz. Zusammen mit Direktorin Sabine Wolfram habe er eng mit der IHK und dem Jobcenter zusammengearbeitet. „Nach den Ereignissen des letzten Jahres war uns klar, dass wir etwas unternehmen müssen, um den Menschen in Chemnitz die Angst vor dem Fremden zu nehmen“, sagt Wolfram. „Wir haben intern Anti-Diskriminierungsworkshops gemacht. Das war sehr erhellend. Ich gehe jetzt mit meinem Agenten verstärkt in die Stadt, um Netzwerke aufzubauen“, sagt sie. Mit DJ-Clubnächten bei ermäßigtem Eintritt möchte sich das Museum allen Bevölkerungsgruppen öffnen.
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Charta der Vielfalt: Deutscher Diversity Tag 2020
Es gibt viele Möglichkeiten, sich mit sensibler Sprache, Klassismus oder auch De-Kolonisierung auseinanderzusetzen. Sophie Kara ist 360˚-Agentin am Nationaltheater Mannheim. Ihr liegt am Herzen, Mitarbeitende vor Diskriminierung zu schützen, sie zu trainieren, wie sie sich wehren können. Zudem sucht Kara den Kontakt zu Minderheiten in Mannheim, fragt: Wie nehmt Ihr Theater wahr? Wo ist Euer Platz? Wie könnt Ihr teilhaben? „Wir wollen Geschichten erzählen, die etwas mit der Lebenswirklichkeit der Menschen in dieser Stadt zu tun haben. Und wenn es solche Stücke nicht gibt, dann begibt sich die Dramaturgie auf die Suche nach Romanen, die man auf die Bühne bringen kann“, sagt sie. Wie etwa in der kommenden Spielzeit den Roman „Ellbogen“ von Fatma Aydemir.

Auch die Musikschule Bochum möchte sich neu positionieren: Obwohl es dort bereits seit 15 Jahren das Ensemble „Alaturka“ gibt und die Instrumente Oud und Baglama zum Kursangebot gehören, stellt sich Leiter Norbert Koop die Frage, wie er ein noch diverseres Musikangebot gestalten kann. „Wir müssen mit Hilfe unserer Agentin unsere Einstellungen zu anderen Kulturen überprüfen und auch lernen, Musik aus Afrika oder Arabien zu spielen.“ Die Hemmschwelle zu überwinden sei die größte Baustelle. Man lade jetzt syrische Musikgruppen zum gemeinsamen Musizieren ein.

Vier Jahre haben die Agentinnen und Agenten nun Zeit, in den Museen, Theatern oder Musikschulen zu wirken. Das ist der Förderzeitraum. Danach sollte die diverse Stadtgesellschaft auch in der Kulturlandschaft besser abgebildet sein und die Institutionen sollten die begonnene Arbeit über den Förderzeitraum fortsetzen.
Foto: Milena Schlösser, Staatliche Museen Berlin, Museum für Islamische Kunst
Erschienen im Tagesspiegel am 14.11.2019