Das Projekt „Positive Stimmen 2.0“ erforscht, wie von HIV betroffene Menschen heute leben und was sie am meisten belastet. Eine Erkenntnis: Sie leiden mehr unter gesellschaftlicher Diskriminierung als unter der eigentlichen Infektion. Ein Gespräch mit Heike Gronski von der Deutschen Aidshilfe
Von Beatrice Hamberger
Frau Gronski, Sie haben das Forschungsprojekt „Positive Stimmen 2.0.“ von Seiten der Deutschen Aidshilfe geleitet. Wie positiv sind die Ergebnisse?
Wirklich positiv ist, dass heute ein gutes Leben mit HIV medizinisch möglich ist. Dank der guten Therapiemöglichkeiten fühlen sich drei Viertel der Befragten gesundheitlich nicht oder nur geringfügig eingeschränkt. Viel schwerer als die eigentliche Infektion wiegen die sozialen Folgen: HIV-positive Menschen sind immer noch Diskriminierung ausgesetzt, was sich natürlich auch auf ihre Lebensqualität niederschlägt. Mehr als die Hälfte der Befragten geben an, dass Vorurteile ihr Leben beeinträchtigen. Unterm Strich können wir sagen, dass der gesellschaftliche Umgang schlimmere Auswirkungen hat als die Infektion selbst.
Welche negativen Erfahrungen beeinträchtigen die Lebensqualität am stärksten?
Das lässt sich aus unserer Untersuchung nicht ableiten. Was wir wissen ist, dass Diskriminierung im Gesundheitswesen nach wie vor am häufigsten vorkommt.
Was erleben die Menschen beim Arzt oder im Krankenhaus?
Sie werden ungleich behandelt. Die Diskriminierung geht so weit, dass HIV-Positiven teils eine Behandlung verweigert wird. Jeder sechste Befragte hat dies mindestens schon einmal in einer zahnärztlichen Praxis erlebt, jeder zwölfte bei anderen Gesundheitsleistungen. Es kommt auch vor, dass Krankenakten markiert werden, so dass der HIV-Status für andere ersichtlich ist. Das ist stigmatisierend und verstößt gegen den Datenschutz. Oder es werden unangemessene Fragen gestellt, etwa „Wo hast du dir das denn geholt?“. Oft werden Termine nur am Ende der Sprechstunde angeboten. Betroffene möchten wir ausdrücklich ermutigen, jede Diskriminierungserfahrung den Aufsichtsbehörden zu melden, etwa den Ärztekammern, und auch unserer Antidiskriminierungsstelle Bescheid zu geben.
Gerade medizinisches Personal müsste es doch eigentlich besser wissen?
Eigentlich ja, aber offenbar besteht auch im Gesundheitswesen noch enormer Aufklärungsbedarf, was eine HIV-Infektion heute bedeutet: dass HIV unter Therapie nicht übertragbar ist. Besondere Hygienemaßnahmen sind nicht nötig. Das Gute an unserer Untersuchung ist, dass wir nun schwarz auf weiß belegen können, dass es sich um ein strukturelles Problem handelt und nicht um Einzelfälle, wie oft behauptet wird. Eine unserer Forderungen, die wir aus den Projekt abgeleitet haben, lautet: Schlechter- oder Nicht-Behandlung von Menschen mit HIV beenden!
Wirklich positiv ist, dass heute ein gutes Leben mit HIV medizinisch möglich ist. Dank der guten Therapiemöglichkeiten fühlen sich drei Viertel der Befragten gesundheitlich nicht oder nur geringfügig eingeschränkt. Viel schwerer als die eigentliche Infektion wiegen die sozialen Folgen: HIV-positive Menschen sind immer noch Diskriminierung ausgesetzt, was sich natürlich auch auf ihre Lebensqualität niederschlägt. Mehr als die Hälfte der Befragten geben an, dass Vorurteile ihr Leben beeinträchtigen. Unterm Strich können wir sagen, dass der gesellschaftliche Umgang schlimmere Auswirkungen hat als die Infektion selbst.
Welche negativen Erfahrungen beeinträchtigen die Lebensqualität am stärksten?
Das lässt sich aus unserer Untersuchung nicht ableiten. Was wir wissen ist, dass Diskriminierung im Gesundheitswesen nach wie vor am häufigsten vorkommt.
Was erleben die Menschen beim Arzt oder im Krankenhaus?
Sie werden ungleich behandelt. Die Diskriminierung geht so weit, dass HIV-Positiven teils eine Behandlung verweigert wird. Jeder sechste Befragte hat dies mindestens schon einmal in einer zahnärztlichen Praxis erlebt, jeder zwölfte bei anderen Gesundheitsleistungen. Es kommt auch vor, dass Krankenakten markiert werden, so dass der HIV-Status für andere ersichtlich ist. Das ist stigmatisierend und verstößt gegen den Datenschutz. Oder es werden unangemessene Fragen gestellt, etwa „Wo hast du dir das denn geholt?“. Oft werden Termine nur am Ende der Sprechstunde angeboten. Betroffene möchten wir ausdrücklich ermutigen, jede Diskriminierungserfahrung den Aufsichtsbehörden zu melden, etwa den Ärztekammern, und auch unserer Antidiskriminierungsstelle Bescheid zu geben.
Gerade medizinisches Personal müsste es doch eigentlich besser wissen?
Eigentlich ja, aber offenbar besteht auch im Gesundheitswesen noch enormer Aufklärungsbedarf, was eine HIV-Infektion heute bedeutet: dass HIV unter Therapie nicht übertragbar ist. Besondere Hygienemaßnahmen sind nicht nötig. Das Gute an unserer Untersuchung ist, dass wir nun schwarz auf weiß belegen können, dass es sich um ein strukturelles Problem handelt und nicht um Einzelfälle, wie oft behauptet wird. Eine unserer Forderungen, die wir aus den Projekt abgeleitet haben, lautet: Schlechter- oder Nicht-Behandlung von Menschen mit HIV beenden!
„Viele Positive haben inzwischen ein
Stigma
im Kopf“
Stigma
im Kopf“
Führen solche Erlebnisse dazu, dass eine HIV-Infektion lieber verschwiegen wird?
HIV-positive Menschen überlegen sich immer noch sehr genau, wem sie von ihrer Infektion erzählen. Drei Viertel der Befragten verheimlichen ihre Infektion in vielen Lebensbereichen, zum Beispiel sprechen 44 Prozent im Arbeitsleben nie offen über HIV. Das Versteckspiel, wem sage ich es und wem nicht, führt auf Dauer zu großem psychischen Stress. Hinzukommt, dass jeder vierte die Stigmatisierung von außen verinnerlicht hat: Dieses Stigma im Kopf reicht von Scham- und Schuldgefühlen über Selbstzweifel und ein geringes Selbstwertgefühl bis hin zu den großen Fragen der Lebensplanung: Bin ich gut genug, eine feste Beziehung einzugehen, kann ich einmal Kinder haben, werde ich Karriere machen können?
Sollten HIV-Positive besser offen mit ihrer Infektion umgehen?
Ein offener Umgang entlastet. Gerade am Anfang ist das unheimlich schwer. Wir sehen aber auch, dass es für 46 Prozent der Befragten mit der Zeit einfacher wird, ihren HIV-Status offenzulegen. Enorm hilfreich ist hierbei der Kontakt zu anderen Menschen mit HIV. Das haben wir auch während des Projektes gesehen; sowohl unsere Interviewer*innen, die ja alle selbst alle HIV-positiv waren, als auch die Befragten fühlten sich durch den Austausch enorm bestärkt. Einige haben sich danach nahezu komplett geoutet.
Das Projekt positive Stimmen wurde erstmals 2012 durchgeführt. Hat sich im Vergleich zu damals etwas verändert? Gibt es einen Trend?
Die beiden Untersuchungen waren unterschiedlich aufgebaut, so dass sich die Ergebnisse wissenschaftlich nicht miteinander vergleichen lassen. Wir haben zum Beispiel 2012 die mehrdimensionale Diskriminierung noch gar nicht untersucht.
Mehrdimensionale Diskriminierung?
Menschen, die neben ihrer HIV-Infektion noch ein weiteres Merkmal aufweisen wie etwa eine schwarze Hautfarbe, eine Migrationsgeschichte oder einen geringen sozioökonomischen Status, leiden wesentlich mehr unter Diskriminierung. Wir sehen, dass ihre Lebenszufriedenheit sinkt, dass ihre Gesundheit schlechter und ihr Selbstwertgefühl geringer ist. Je mehr Merkmale hinzukommen, desto größer wird der Leidensdruck.
Die Befragung fand im Corona-Jahr 2020 statt. Gibt es Erkenntnisse, ob HIV-Positive besonders unter der Pandemie leiden?
Medizinisch macht es wohl weniger einen Unterschied. HIV-Positiven wurde außerdem schon früh die Impfung empfohlen. Wir sehen aber eine Zunahme von Depressionen. Das ist auch in der Allgemeinbevölkerung so, bloß haben HIV-Positive ohnehin ein höheres Risiko für Depressionen, was sicher auf Lebensumstände und Diskriminierungserfahrung zurückzuführen ist. Darum haben Einschränkungen wie Lockdown diesen Personenkreis besonders hart getroffen. Allerdings wurde das in der Studie nicht erhoben.
Was machen Sie nun mit den Ergebnissen?
Wir haben aus den Ergebnissen sieben Forderungen und 17 konkrete Handlungsempfehlungen entwickelt, die sich an Akteure wie Politik, Gesundheitswesen und Medienschaffende richten. Die große Klammer ist Aufklärungsarbeit, damit die Diskriminierung in unserer Gesellschaft endlich ein Ende hat. Im Grunde fängt unsere Arbeit jetzt erst richtig an.
— Heike Gronski ist Sozialarbeiterin und leitet seit 2011 den Fachbereich „Leben mit HIV“ bei der Deutschen Aidshilfe.
HIV-positive Menschen überlegen sich immer noch sehr genau, wem sie von ihrer Infektion erzählen. Drei Viertel der Befragten verheimlichen ihre Infektion in vielen Lebensbereichen, zum Beispiel sprechen 44 Prozent im Arbeitsleben nie offen über HIV. Das Versteckspiel, wem sage ich es und wem nicht, führt auf Dauer zu großem psychischen Stress. Hinzukommt, dass jeder vierte die Stigmatisierung von außen verinnerlicht hat: Dieses Stigma im Kopf reicht von Scham- und Schuldgefühlen über Selbstzweifel und ein geringes Selbstwertgefühl bis hin zu den großen Fragen der Lebensplanung: Bin ich gut genug, eine feste Beziehung einzugehen, kann ich einmal Kinder haben, werde ich Karriere machen können?
Sollten HIV-Positive besser offen mit ihrer Infektion umgehen?
Ein offener Umgang entlastet. Gerade am Anfang ist das unheimlich schwer. Wir sehen aber auch, dass es für 46 Prozent der Befragten mit der Zeit einfacher wird, ihren HIV-Status offenzulegen. Enorm hilfreich ist hierbei der Kontakt zu anderen Menschen mit HIV. Das haben wir auch während des Projektes gesehen; sowohl unsere Interviewer*innen, die ja alle selbst alle HIV-positiv waren, als auch die Befragten fühlten sich durch den Austausch enorm bestärkt. Einige haben sich danach nahezu komplett geoutet.
Das Projekt positive Stimmen wurde erstmals 2012 durchgeführt. Hat sich im Vergleich zu damals etwas verändert? Gibt es einen Trend?
Die beiden Untersuchungen waren unterschiedlich aufgebaut, so dass sich die Ergebnisse wissenschaftlich nicht miteinander vergleichen lassen. Wir haben zum Beispiel 2012 die mehrdimensionale Diskriminierung noch gar nicht untersucht.
Mehrdimensionale Diskriminierung?
Menschen, die neben ihrer HIV-Infektion noch ein weiteres Merkmal aufweisen wie etwa eine schwarze Hautfarbe, eine Migrationsgeschichte oder einen geringen sozioökonomischen Status, leiden wesentlich mehr unter Diskriminierung. Wir sehen, dass ihre Lebenszufriedenheit sinkt, dass ihre Gesundheit schlechter und ihr Selbstwertgefühl geringer ist. Je mehr Merkmale hinzukommen, desto größer wird der Leidensdruck.
Die Befragung fand im Corona-Jahr 2020 statt. Gibt es Erkenntnisse, ob HIV-Positive besonders unter der Pandemie leiden?
Medizinisch macht es wohl weniger einen Unterschied. HIV-Positiven wurde außerdem schon früh die Impfung empfohlen. Wir sehen aber eine Zunahme von Depressionen. Das ist auch in der Allgemeinbevölkerung so, bloß haben HIV-Positive ohnehin ein höheres Risiko für Depressionen, was sicher auf Lebensumstände und Diskriminierungserfahrung zurückzuführen ist. Darum haben Einschränkungen wie Lockdown diesen Personenkreis besonders hart getroffen. Allerdings wurde das in der Studie nicht erhoben.
Was machen Sie nun mit den Ergebnissen?
Wir haben aus den Ergebnissen sieben Forderungen und 17 konkrete Handlungsempfehlungen entwickelt, die sich an Akteure wie Politik, Gesundheitswesen und Medienschaffende richten. Die große Klammer ist Aufklärungsarbeit, damit die Diskriminierung in unserer Gesellschaft endlich ein Ende hat. Im Grunde fängt unsere Arbeit jetzt erst richtig an.
— Heike Gronski ist Sozialarbeiterin und leitet seit 2011 den Fachbereich „Leben mit HIV“ bei der Deutschen Aidshilfe.
Hintergrund
„Positive Stimmen 2.0.“ ist ein Kooperationsprojekt der Deutschen Aidshilfe und des Instituts für Demokratie und Zivilgesellschaft. Die Befragung umfasste drei Teile: In „Peer-to-peer“-Interviews wurden rund 450 Menschen mit HIV anhand eines standardisierten internationalen Leitfadens nach ihrem Leben mit HIV befragt. Das Besondere: Auch die Interviewer*innen des Projekts waren HIV-positiv. Zudem haben fast 1000 HIV-positive Menschen für die Studie einen Online-Fragebogen über ihre Diskriminierungserfahrungen und die persönlichen Folgen ausgefüllt. In Fokusgruppen wurden die Ergebnisse vertieft. Ziel des partizipativen Forschungsprojekts war es, nicht nur neue Erkenntnisse über das Leben mit HIV zu gewinnen, sondern auch HIV-positive Menschen zu stärken. Das Bundesministerium für Gesundheit hat das Projekt finanziell gefördert.
Fotos: Antonio Guillem/Imago; DAH/Joannes Berger
Erschienen im Tagesspiegel am 01.12.2021
Erschienen im Tagesspiegel am 01.12.2021