Christopher Street Day 2021

Tanz der verbotenen Farben

In Berlin wehen überall Regenbogenfahnen, in der Türkei werden sie regelmäßig konfisziert und Demos unterbunden. Doch finden dort junge Aktivist*innen immer neue Wege des Widerstands. Ein Gastbeitrag

Von Ebru Nihan Celkan

Ich bin zwar noch relativ neu in Berlin, doch hatte ich kürzlich von mehreren Demos zu Beginn des Pride Month gehört. Nach einer kurzen Überforderung entschloss ich mich, aus Bequemlichkeit einfach zum Startpunkt am Hermannplatz zu gehen. Offen gesagt zweifelte ich kurz an meiner Entscheidung, als dort gar nicht mal so viele, und nicht so unterschiedliche Menschen zusammenkamen, wie ich es mir erhofft hatte. Doch sobald es losging, wurden wir immer mehr, mit jedem Schritt, an jedem Platz; und immer vielfältiger wurden unsere Stimmen, unsere Sprachen. Furchtlos liefen wir mit der Musik, klatschten und tanzten.

Und die Polizei lief mit uns. Ich stockte. Eine Freundin erklärte mir, die Polizei sei hier, um die LGBTIQA+ zu schützen. Konnte das stimmen? Diese Vorstellung, beim CSD von der Polizei beschützt zu werden, brachte mich in Gedanken sofort zum Istanbuler Pride March, der dort um 17 Uhr beginnen sollte. Meine Augen klebten an Instagram und Twitter. Wo immer ich bin, in meinem Herzen hat die Türkei einen Platz. Oder sagen wir: Sie ist immer bei mir, wie wenn man sich den Daumen an einem Blatt Papier aufschneidet und die Wunde sich einfach nicht schließen will.

Mein Körper schwamm mit im bunten, energiereichen Fluss der Menschen in Berlin, während mein Geist gleichzeitig am Taksimplatz in Istanbul hing. Und zwar nicht nur, weil ich von dort gekommen bin. Sondern, weil Tausende von Menschen dort mitliefen, die ich aus Theaterkontexten, meiner Gender- und Diversity-Arbeit kenne.

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Ebru Nihan Celkan, 1979 in Adana geboren, ist Autorin und Dramatikerin. Sie gibt außerdem Workshops zu Diversity und Gendergerechtigkeit. Celkan lebt in Berlin und Istanbul.

In den letzten Jahren sind Schlagzeilen wie „Polizeigewalt gegen 19. Istanbuler Pride“ immer häufiger geworden. Der letzte unbehinderte Pride in der Türkei fand 2014 unter Beteiligung von Hunderttausenden von Menschen statt. Seit sieben Jahren sind keine Pride-Veranstaltungen mehr erlaubt. Dieses Mal ging es mit den Meldungen schon zwei Stunden vor Demobeginn los. Aus den sozialen Medien erfuhren wir, dass große und kleine Straßen abgesperrt waren und junge Menschen mit T-Shirts in Regenbogenfarben nicht zum Versammlungsort auf der Istiklal durchgelassen wurden. Sowohl Regenbogenflaggen, als auch die Trans-Flagge wurden als „verbotene Gegenstände“ einkassiert, ebenso wie die Menschen, die sie trugen. Der AFP-Korrespondent Bülent Kalaç wurde beim Versuch, diese gewalttätigen Übergriffe zu fotografieren, von der Polizei zu Boden getreten und festgenommen.

In diesem Artikel möchte ich aber die andere Seite der Geschichte erzählen. Denn die Menschen mit den verbotenen Farben waren ja, trotz Polizeigewalt, nicht nur in Istanbul, sondern auch in relativ kleinen Städten auf den Straßen. Es gibt eine Generation, die ihre Identität nicht versteckt, konsequent und unnachgiebig auf Formen friedlichen Protestes setzt und genau weiß, wie sie die sozialen Medien für ihre Kämpfe einsetzen kann. Diese Generation inspiriert mich. Ich folge ihnen, so gut ich kann, und versuche, von ihnen zu lernen.

Die türkische Regierung schafft es derzeit gerade noch, die Sicherheitskräfte zu organisieren und Ausschreibungen für immer neue Bauprojekte zu vergeben. In allen anderen Bereichen wie der Wirtschaftspolitik oder dem Bildungssystem kann sie ihre Hegemonialstellung kaum noch behaupten und setzt scheinbar alles daran, die Bevölkerung mit in den Abgrund zu reißen.

Brutalität ist eine ihrer wichtigsten Methoden. Wenn man sieht, wie die Pride-Flaggen von Sicherheitskräften belagert werden, könnte man auf den Gedanken kommen, dass die Heterosexualität in der Türkei bis auf die letzte Patrone verteidigt wird. Dabei handelt es sich nur um die Show einer recht überschaubaren Gruppe von Menschen, die sich selbst und allen anderen immer wieder in Erinnerung rufen wollen, dass sie die Machthaber sind.

Durch die sozialen Medien haben die Queers eine laute eigene Stimme

Aber diese Show traf anlässlich der diesjährigen Pride-Week auf den unbeugsamen, friedlichen, harten, feiernden, verbissenen Widerstand von queeren Menschen, die um ihr Daseinsrecht kämpfen. Die hoffnungslosen Gewaltmeldungen, die schnell durch die Medien gingen, wurden ebenso schnell durch die Postings von Protest-Teilnehmenden gekontert. Während die Polizei vorpreschte, bildeten zwei junge Queers eine Mauer aus ihren Körpern und schritten in aller Seelenruhe auf die Polizei zu. Auf einem Videomitschnitt hört man, wie sie die etwa gleichalten Polizist*innen ansprechen: „Warum kann ich in diesem Land nicht in Menschenwürde auf die Straße gehen? Macht uns Platz. Wir tun niemandem etwas.“

Diese Generation weist die Binaritäten nicht nur im Kontext von Gender zurück, sondern möchte die Welt nicht mehr in Binaritäten lesen. Im digitalen Raum hat sie einen Boden gefunden, um die destruktive Logik des Diktums „Wer nicht zu uns gehört, ist unser Feind“ hinter sich zu lassen. Viele Menschen aus dieser Generation wollen Kommunikation jenseits von Polarisierung, und die Sprache, die sie benutzen, schließt uns nicht aus, ihre Repräsentationspraxis meint uns mit. Ich nehme sie als eine Einladung wahr, der ich folgen möchte, so gut ich kann. Ich bin in Berlin, aber ich kann eine Stimme für die Menschen sein, die tausende Kilometer entfernt festgenommen werden.

In der zentralanatolischen Stadt Eskieehir sollte zum ersten Mal eine Pride-Parade stattfinden. Sie kam nicht weit und über WhatsApp erhielt ich ein Foto von zweijungen Frauen, deren Handgelenke mit Handschellen aneinandergekettet waren. „Wir sind im Polizeitransporter. Aber wir sind zusammen und haben keine Angst“, schrieben sie – und teilten Bild und Botschaft im Netz. Es bildete sich eine starke Öffentlichkeit und bald wurden die beiden freigelassen. Sie teilten ein zweites Foto, Schulter an Schulter, mit einem riesigen Lachen, als hätte das Unrecht gar nicht stattgefunden.

In Berlin laufen wir unter Lindenduft. Ich möchte allen Menschen diese Fotos zeigen. Ich möchte, dass unsere Stimmen in Istanbul zu hören sind, dass sich niemand allein fühlt. Niemand auf dieser Welt weiß besser, was Einsamkeit bedeutet, als ein trans Kind, als eine queere Jugendliche.
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Dann kommt ein Video von einem anderen queeren Verein. Unnachgiebig suchen sie nach Wegen, auf der Istiklal einen Text zu verlesen. Die Polizei „fegt die Menschen von der Straße“, wie es gern heißt, aber die Menschen sammeln sich an anderen Straßen und atmen durch. Jemand beginnt zu lesen: „Wir veranstalten den 19. Istanbuler LGBTI+ Pride March heute am Taksim. Die Räume, in denen wir uns noch bewegen können, werden immer enger. Darauf antworten wir, indem wir uns aufteilen, bis wir überall zu sehen sind und leisten Widerstand. Und dann kehren wir alle zusammen zurück auf die Straße. Das letzte Jahr war für uns LGBTI+ und für die Mehrheitsgesellschaft ein Jahr voller Repression, Gewalt und Tyrannei. Doch wir geben unsere Ansprüche auf unsere Rechte und unsere Freiheiten nicht auf.“

In Berlin kommen wir an Regierungsgebäuden vorbei, vor denen Regenbogenflaggen ausgestattet sind, und vereinen uns mit den anderen Demozügen. Der Text aus Istanbul müsste auch hier verlesen werden, denke ich, damit die Menschen wissen, was jetzt gerade dort passiert. Damit wir den Widerstand von dort weitertragen können.

Als ich mich von den Menschenmengen des Berliner CSD entferne, bekomme ich ein weiteres, fantastisches Video. Nachdem die Menschen über Stunden hinweg „von den Straßen gefegt“ wurden, kommen sie in einer Seitengasse am Galatasaray-Gymnasium zusammen. Ich sehe die junge Frau mit Kopftuch, die seit Stunden mit ihren Freund*innen tanzt. Ich sehe eine trans Frau, die auf einem Autodach tanzt, als entdecke sie gerade jede Windung ihres Körpers neu. Unbeeindruckt von der Polizeigewalt und den Festnahmen. Sie geben nichts auf Feindschaft, Wut und Gewalt. Sie tanzen nicht aus Rache, sondern weil sie sie selbst sein wollen. Nicht verhalten oder furchtsam, sondern glücklich, im Rausch des Lebens, das sie unverstellt leben möchten, mit frischem Kajal und nachgezogenem Lippenstift.

Seit die Regenbogenfarben einem juristisch schwer fassbaren Verbot unterliegen, sind sie zu den Farben eines Aufstands geworden. Dank ihrer Sichtbarkeit beim Widerstand von Gezi sind queere Menschen in der Türkei eine Gruppe, der viele Menschen mehr Vertrauen als Ängste entgegenbringen. Ihre Geschichte geht weiter. Sie wird immer stärker, bunter und resilienter.

Ob in Istanbul, in Berlin, in Eskieehir oder an anderen Orten der Welt, jenseits aller Binaritäten und Zwänge: Wir sind, die wir sind.

— Aus dem Türkischen übersetzt von Oliver Kontny.
Fotos: Tunahan Turhan/Imago, Aydan Çinar
Erschienen im Tagesspiegel am 23.07.2021