1700 Jahre Jüdisches Leben

Säen, ernten, auswandern

Landwirtschaft lernen fürs Exil: In Neuendorf im Sande wird die Erinnerung an die Hachschara gepflegt

Von Dorothee Nolte

Im Sande, da liegen Geschichte und Zukunft, man muss sie nur zu deuten wissen. „Hier war der Pferdestall“, sagt Katharina Vorbau. Die Diplompädagogin steht auf dem zentralen Platz der Gutsanlage Neuendorf im Sande, rund 60 Kilometer südöstlich von Berlin. „Und da stand das Gutshaus.“ Sie deutet auf einen schlichten grauen Bau mit DDR-Charme, der errichtet wurde, nachdem das herrschaftliche Gutshaus ausgebrannt war. Ein paar Schritte weiter: die Scheune, der alte Bullenstall, die Milchkammer, das Verwalterhaus, vieles davon stark sanierungsbedürftig. Und der alte Kornspeicher: „Hier wollen wir unser Geschichtshaus einrichten.“ Der Verein „Zusammen in Neuendorf“, der die Anlage betreibt, hat noch viel Arbeit vor sich. „Ein Lebensprojekt“, sagt Katharina Vorbau und wirkt glücklich dabei.

„Hachschara“ bedeutet Tauglichmachung

Die Geschichte des Guts bei Fürstenwalde ist es wert, im Kornspeicher und andernorts erzählt zu werden. Von 1932 bis 1941 befand sich hier das „Landwerk Neuendorf“, eine Ausbildungsstätte der „Hachschara“, in der junge Jüdinnen und Juden auf die Ausreise nach Palästina und das Leben im Kibbuz vorbereitet wurden. Sie erhielten eine landwirtschaftliche, handwerkliche oder hauswirtschaftliche Ausbildung und lernten Hebräisch: für die meist städtisch geprägten Jugendlichen war das alles neu. Das hebräische Wort „Hachschara“ bedeutet „Tauglichmachung, Vorbereitung“, die Hachschara-Bewegung, Ende des 19. Jahrhunderts entstanden, war zionistisch ausgerichtet. Mit dem Aufstieg der Nationalsozialisten wurde aber klar: Es ging nicht mehr nur um eine Ausreise nach Palästina, sondern darum, irgendwo auf der Welt Exil zu finden, das eigene Leben zu retten. Zeitweise gab es fast 100 Hachschara-Stätten in Deutschland, allein in Brandenburg waren es 20. Aber die wenigsten sind heute noch als solche zu erkennen oder öffentlich zugänglich – Neuendorf im Sande ist eine Ausnahme.
Die Geschichte ins Heute tragen. In Neuendorf im Sande erinnern Silhouetten mit historischen Fotos an die Zeit der Hachschara.
Die Geschichte ins Heute tragen. In Neuendorf im Sande erinnern Silhouetten mit historischen Fotos an die Zeit der Hachschara.
Hier wird das historische Erbe gepflegt, wenn auch mit bescheidenen Mitteln. Der Verein „Zusammen in Neuendorf“, ein Zusammenschluss von gut 20 Menschen, hat die Anlage 2018 von der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben (BIMA) gekauft – mit Krediten, Unterstützung durch die Trias-Stiftung, die deutsche Dependance der Stiftung Edith Maryon – und einer Menge Mut. Sie erhielten den Zuschlag, weil sie ein überzeugendes Konzept hatten, wie sie die Geschichte des Guts erlebbar machen wollen: in Ausstellungen, Veranstaltungen, Führungen und Bildungsprojekten. „Wir möchten an die Geschichte anknüpfen und sie ins Heute tragen“, sagt Katharina Vorbau. Sie träumt davon, mit Schulklassen und Kitagruppen zu arbeiten. Noch allerdings gibt es gar keine Möglichkeit, Gruppen unterzubringen.

Bereits jetzt zu sehen sind die lebensgroßen weißen Figuren, die über das Gelände verteilt sind: Silhouetten der ehemaligen Bewohner:innen, mit großformatigen historischen Schwarz-Weiß-Fotos. Sie zeigen die Hachschara-Jugendlichen bei der Ernte, auf dem Feld, auf der Freitreppe des Gutshauses, es sind Fotos, auf denen Aufbruchsgeist und Zusammenhalt zu spüren ist. Was ist aus diesen jungen Menschen geworden? „Das lässt sich nicht systematisch erforschen, denn es gibt keine Listen der Mitglieder“, sagt Bernd Pickert, Vorstand des kooperierenden Vereins „Geschichte hat Zukunft – Neuendorf im Sande“. Aber es gibt immer wieder Überraschungen: Menschen, die sich melden, weil ihre Eltern oder Großeltern in Neuendorf waren.
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Viele Neuendorfer sind nach Argentinien ausgewandert. Pickert hat in der „Colonia Avigdor“ 500 Kilometer nordöstlich von Buenos Aires einige Nachfahren getroffen. Kontakte bestehen auch zu Nachkommen ehemaliger „Neuendorfer“ in Australien, Großbritannien, den Niederlanden, den USA, Neuseeland und Israel.

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Esther Bejerano kam nach 80 Jahren wieder auf das Gut

1941 wandelten die Nazis die Hachschara-Stätte, die sie bis dahin toleriert hatten, in ein Zwangsarbeiterlager um. Hans Rosenthal, der spätere „Dalli, Dalli“-Quizmaster, war hier interniert, ebenso Jutta Baumwol, an die ein Denkmal am Eingang des Guts erinnert. Ihr Bruder Itzhak, mittlerweile über 90, kommt jedes Jahr nach Neuendorf. Im Mai war auch die inzwischen verstorbene Auschwitz-Überlebende und Musikerin Esther Bejerano zu Gast, die als 16-Jährige hier Zwangsarbeiterin war. Sie wurde 1943 wie alle anderen jüdischen Bewohner von hier aus nach Auschwitz deportiert. Die Berliner Lehrerin Clara Grunwald fuhr mit der Kindergruppe, die sie betreute, in den Tod.

Von ihr und anderen, die hier lebten, lernten und litten, wird im kommenden Jahr eine Ausstellung berichten, die zunächst im Keller des Gutshauses zu sehen sein wird. Bis dann irgendwann auch der alte Kornspeicher saniert ist.

— Informationen unter www.zusane.org und www.geschichte-hat-zukunft.org. Führungen nach Anmeldung sind möglich, Spenden sind erwünscht.
Fotos: Carolina Grabowska, Dorothee Nolte, Adrienne Gerhäuser
Erschienen im Tagesspiegel am 17.09.2021