Im Bild der jüdischen Mutter steckt viel Liebevolles, aber auch Frauenfeindliches, sagt Laura Cazés. Ein Gespräch über Feminismus, Identität und Einsamkeit
Von Ola Lebedowicz
Frau Cazés, wie ist es, mit einer jüdischen Mutter in Deutschland aufzuwachsen?
Ich weiß, was Sie meinen: neurotisch, überbehütend, grenzüberschreitend. Sie möchte, dass die Kinder überperformen, hat immer Angst, dass sie nicht genug essen, und lauter solche Dinge.
Sie lachen.
Das Klischee gibt es ja, es wird in der Popkultur wahnsinnig gern aufgegriffen.
Und, steckt viel Wahrheit drin?
Was mich als jüdische Feministin viel mehr interessiert – ganz unabhängig davon, wie viel jüdische Mutter in meiner jüdischen Mama steckt –, ist die Frage, warum es dieses Bild überhaupt gibt und wo diese Attribute eigentlich herkommen?
Haben Sie eine Antwort darauf?
Das hat viel mit der Verfolgungsbiografie zu tun. In den vergangenen 150 Jahren gab es fast keine Generation, die nicht in irgendeiner Form von Flucht oder Trauma betroffen war. Das erklärt, warum diese Eigenschaften eine so große Rolle spielen. Aber es gibt natürlich auch das Gegenbild einer jüdischen Mutter: Eine Frau, die derart Schreckliches erlebt hat, dass sie überhaupt gar keine Ressourcen hat, ihrer Rolle als Mutter gerecht zu werden. In der jüdischen Community blieb das lange unausgesprochen.
Wird dieses Thema von jungen jüdischen Frauen jetzt mehr reflektiert?
Absolut! Einerseits hat das Klischee der jüdischen Mutter sehr liebevolle Züge – es ist etwas sehr Greifbares, Menschliches und Lebendiges. Deshalb wird es, glaube ich, als Element der Resilienz, eine gewisse Form von Humor, so stark kultiviert, ob in der SZ-Kolumne von Linda Sabiers, bei der WDR-Talkshow „Freitagnacht Jews“ oder in der kultigen US-Sitcom „Die Nanny“. Andererseits hat es latent auch frauenfeindliche Züge. Insofern gibt es heute zwischen jüdischen Frauen – übrigens völlig gleichgültig, ob sie religiös, traditionell oder säkular leben – einen interessanten Aushandlungsprozess, wie man auf der einen Seite ein bisschen schelmisch mit dem Bild spielt, sich dann aber zugleich von diesen Rollenzuschreibungen emanzipiert.
Jüdische Mutter, das klingt auch fast nach einer doppelten Diskriminierung.
Da muss man gar nicht mit diesem Klischee anfangen. Es reicht auch zu sagen: Du bist jüdisch und du bist eine Frau.
Was bedeutet es eigentlich, als junge, jüdische Frau in Deutschland zu leben?
Das kann so vieles bedeuten, für jede Einzelne ganz unterschiedliche Dinge. Die meisten Jüdinnen haben eine Migrationsbiografie, da prallen Welten aufeinander. Ich persönlich habe mich sehr bewusst dazu entschieden, mit den vielen Prägungen meiner Identität offen umzugehen und darüber auch öffentlich zu sprechen.
Ich weiß, was Sie meinen: neurotisch, überbehütend, grenzüberschreitend. Sie möchte, dass die Kinder überperformen, hat immer Angst, dass sie nicht genug essen, und lauter solche Dinge.
Sie lachen.
Das Klischee gibt es ja, es wird in der Popkultur wahnsinnig gern aufgegriffen.
Und, steckt viel Wahrheit drin?
Was mich als jüdische Feministin viel mehr interessiert – ganz unabhängig davon, wie viel jüdische Mutter in meiner jüdischen Mama steckt –, ist die Frage, warum es dieses Bild überhaupt gibt und wo diese Attribute eigentlich herkommen?
Haben Sie eine Antwort darauf?
Das hat viel mit der Verfolgungsbiografie zu tun. In den vergangenen 150 Jahren gab es fast keine Generation, die nicht in irgendeiner Form von Flucht oder Trauma betroffen war. Das erklärt, warum diese Eigenschaften eine so große Rolle spielen. Aber es gibt natürlich auch das Gegenbild einer jüdischen Mutter: Eine Frau, die derart Schreckliches erlebt hat, dass sie überhaupt gar keine Ressourcen hat, ihrer Rolle als Mutter gerecht zu werden. In der jüdischen Community blieb das lange unausgesprochen.
Wird dieses Thema von jungen jüdischen Frauen jetzt mehr reflektiert?
Absolut! Einerseits hat das Klischee der jüdischen Mutter sehr liebevolle Züge – es ist etwas sehr Greifbares, Menschliches und Lebendiges. Deshalb wird es, glaube ich, als Element der Resilienz, eine gewisse Form von Humor, so stark kultiviert, ob in der SZ-Kolumne von Linda Sabiers, bei der WDR-Talkshow „Freitagnacht Jews“ oder in der kultigen US-Sitcom „Die Nanny“. Andererseits hat es latent auch frauenfeindliche Züge. Insofern gibt es heute zwischen jüdischen Frauen – übrigens völlig gleichgültig, ob sie religiös, traditionell oder säkular leben – einen interessanten Aushandlungsprozess, wie man auf der einen Seite ein bisschen schelmisch mit dem Bild spielt, sich dann aber zugleich von diesen Rollenzuschreibungen emanzipiert.
Jüdische Mutter, das klingt auch fast nach einer doppelten Diskriminierung.
Da muss man gar nicht mit diesem Klischee anfangen. Es reicht auch zu sagen: Du bist jüdisch und du bist eine Frau.
Was bedeutet es eigentlich, als junge, jüdische Frau in Deutschland zu leben?
Das kann so vieles bedeuten, für jede Einzelne ganz unterschiedliche Dinge. Die meisten Jüdinnen haben eine Migrationsbiografie, da prallen Welten aufeinander. Ich persönlich habe mich sehr bewusst dazu entschieden, mit den vielen Prägungen meiner Identität offen umzugehen und darüber auch öffentlich zu sprechen.
Laura Cazés (31) leitet die Abteilung für Kommunikation und Digitalisierung bei der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland. Sie lebt in Frankfurt am Main.
Ihre Mutter ist Tochter von Shoah-Überlebenden aus Polen, ihr Vater ein jüdischer Argentinier mit türkischen Wurzeln.
Dass ich als Jüdin einen deutschen Pass habe oder dass die Muttersprache meiner Eltern nicht Deutsch ist, all das fließt in meine Positionen mit rein. Außerdem ist man als jüdische Person in Deutschland ohnehin ständig Spannungen ausgesetzt – zwischen der Selbstbestimmung, nach der man sich sehnt, und der Fremdwahrnehmung von außen.
Das müssen Sie bitte genauer erklären.
Was bedeutet es für mich persönlich, jüdisch zu sein? Wie hängt das mit meinen Entscheidungen zusammen und mit der Art und Weise, wie ich mein Leben gestalten möchte? Diese Fragen muss jeder für sich beantworten. Gleichzeitig löst allein der Satz „Du bist Jüdin“ eine unglaubliche Projektionsfläche aus, die auch immer gekoppelt ist an Themen wie Shoah, Alltagsantisemitismus, Religion oder der Nahostkonflikt.
Wird die Vielfalt der jüdischen Stimmen öffentlich ausreichend repräsentiert?
Ich glaube, dass die Sichtbarkeit jüdischen Lebens relativ groß ist im Vergleich zu der Zahl der jüdischen Menschen, die hier leben. Das sagt zum Beispiel auch die Medienwissenschaftlerin Lea Wohl von Haselberg. Natürlich hat das viel mit der Geschichte dieses Landes zu tun. Was ich aber als besonders spannend wahrnehme, ist dass die Lebensrealitäten von jungen Jüdinnen heute viel präsenter sind als noch vor zehn Jahren.
Dank sozialer Medien?
Auch, aber nicht nur. Es gibt viele neue Formate, die Zeitschrift „Jalta“ zum Beispiel oder die Bücher von Mirna Funk und Lena Gorelik, beide junge jüdische Autorinnen, die mit ihren eigenen Biografien arbeiten, obwohl sie Fiktion schreiben. Auch junge jüdische Aktivistinnen werden mit ihren feministischen wie konservativen Positionen sichtbarer.
Über die Stellung von Frauen im Judentum wird seit Jahrhunderten kontrovers diskutiert. Sie organisieren seit drei Jahren den „Jewish Women Empowerment Summit“ mit, der sich an junge Teilnehmerinnen richtet. Warum sind solche Formate wichtig?
Es gibt ein großes Bedürfnis nach einem Ort, wo man gemeinsam sein kann und sich nicht mehr erklären muss. Jüdisch zu sein ist für junge Jüdinnen und Juden in Deutschland grundsätzlich eine eher einsame Erfahrung, weil man in den meisten Momenten seines Lebens außerhalb der Familie die einzige jüdische Person ist. Das kann schon an der Seele zehren. Unser Summit bietet drei Tage lang einen Raum der Gemeinsamkeit.
Welche Themen bewegen junge Jüdinnen?
Vereinbarkeit von Familie und Beruf, sexuelle Selbstbestimmung, rechtsextreme Gewalt. Nach der jüngsten Eskalation in Nahost haben wir schmerzlich erkennen müssen, dass kein Milieu immun ist gegen Antisemitismus, und wie fragil Allianzen sind, selbst in queeren und feministischen Räumen.
Dabei gibt es in Deutschland eine lange Tradition von jüdischen Feministinnen.
Ja, vor allem vor der Shoah. Die Zentralwohlfahrtsstelle ist auf Basis einer feministischen Bewegung entstanden, des jüdischen Frauenbundes mit Bertha Pappenheim als Gründerin. Regina Jonas, die erste Rabbinerin der Welt, kam aus Berlin.
Die Frage der Emanzipation wird häufig auf den religiösen Aspekt reduziert.
Mein Gefühl ist, dass es nur marginal mit der Religion zu tun hat, sondern vielmehr mit patriarchalen Strukturen. Und die gibt es in der jüdischen Community genauso wie überall sonst in der Gesellschaft.
Dass ich als Jüdin einen deutschen Pass habe oder dass die Muttersprache meiner Eltern nicht Deutsch ist, all das fließt in meine Positionen mit rein. Außerdem ist man als jüdische Person in Deutschland ohnehin ständig Spannungen ausgesetzt – zwischen der Selbstbestimmung, nach der man sich sehnt, und der Fremdwahrnehmung von außen.
Das müssen Sie bitte genauer erklären.
Was bedeutet es für mich persönlich, jüdisch zu sein? Wie hängt das mit meinen Entscheidungen zusammen und mit der Art und Weise, wie ich mein Leben gestalten möchte? Diese Fragen muss jeder für sich beantworten. Gleichzeitig löst allein der Satz „Du bist Jüdin“ eine unglaubliche Projektionsfläche aus, die auch immer gekoppelt ist an Themen wie Shoah, Alltagsantisemitismus, Religion oder der Nahostkonflikt.
Wird die Vielfalt der jüdischen Stimmen öffentlich ausreichend repräsentiert?
Ich glaube, dass die Sichtbarkeit jüdischen Lebens relativ groß ist im Vergleich zu der Zahl der jüdischen Menschen, die hier leben. Das sagt zum Beispiel auch die Medienwissenschaftlerin Lea Wohl von Haselberg. Natürlich hat das viel mit der Geschichte dieses Landes zu tun. Was ich aber als besonders spannend wahrnehme, ist dass die Lebensrealitäten von jungen Jüdinnen heute viel präsenter sind als noch vor zehn Jahren.
Dank sozialer Medien?
Auch, aber nicht nur. Es gibt viele neue Formate, die Zeitschrift „Jalta“ zum Beispiel oder die Bücher von Mirna Funk und Lena Gorelik, beide junge jüdische Autorinnen, die mit ihren eigenen Biografien arbeiten, obwohl sie Fiktion schreiben. Auch junge jüdische Aktivistinnen werden mit ihren feministischen wie konservativen Positionen sichtbarer.
Über die Stellung von Frauen im Judentum wird seit Jahrhunderten kontrovers diskutiert. Sie organisieren seit drei Jahren den „Jewish Women Empowerment Summit“ mit, der sich an junge Teilnehmerinnen richtet. Warum sind solche Formate wichtig?
Es gibt ein großes Bedürfnis nach einem Ort, wo man gemeinsam sein kann und sich nicht mehr erklären muss. Jüdisch zu sein ist für junge Jüdinnen und Juden in Deutschland grundsätzlich eine eher einsame Erfahrung, weil man in den meisten Momenten seines Lebens außerhalb der Familie die einzige jüdische Person ist. Das kann schon an der Seele zehren. Unser Summit bietet drei Tage lang einen Raum der Gemeinsamkeit.
Welche Themen bewegen junge Jüdinnen?
Vereinbarkeit von Familie und Beruf, sexuelle Selbstbestimmung, rechtsextreme Gewalt. Nach der jüngsten Eskalation in Nahost haben wir schmerzlich erkennen müssen, dass kein Milieu immun ist gegen Antisemitismus, und wie fragil Allianzen sind, selbst in queeren und feministischen Räumen.
Dabei gibt es in Deutschland eine lange Tradition von jüdischen Feministinnen.
Ja, vor allem vor der Shoah. Die Zentralwohlfahrtsstelle ist auf Basis einer feministischen Bewegung entstanden, des jüdischen Frauenbundes mit Bertha Pappenheim als Gründerin. Regina Jonas, die erste Rabbinerin der Welt, kam aus Berlin.
Die Frage der Emanzipation wird häufig auf den religiösen Aspekt reduziert.
Mein Gefühl ist, dass es nur marginal mit der Religion zu tun hat, sondern vielmehr mit patriarchalen Strukturen. Und die gibt es in der jüdischen Community genauso wie überall sonst in der Gesellschaft.
Fotos: cottonbro/Pexels, Robert Poticha
Erschienen im Tagesspiegel am 17.09.2021
Erschienen im Tagesspiegel am 17.09.2021