Pride Month Berlin

Jung, queer und spießig

Freizügig auf dem CSD, lieber nicht. Die Generation Z entdeckt die PRÜDERIE. Missversteht sie die Parade?

Von Matthias Kreienbrink

Es sind altvertraute Sätze: „Kinder sollten sowas nicht ausgesetzt sein.“ „Ich denke das hat seinen Platz im Schlafzimmer, nicht auf der Straße.“ „Wieso muss Pride so übersexualisiert sein?“ Auf Twitter oder Facebook, in Telegram-Gruppen oder Online-Foren: Derzeit macht sich wieder ein Diskurs breit, der seit den ersten Pride-Paraden in den USA und den Christopher Street Day-Demos in Deutschland immer wieder zu hören ist. Die Diskussion darüber, wer einen sichtbaren Platz in diesen Umzügen haben sollte – und wer nicht.

Die Grundfrage lautet: Wie angepasst sollen die queeren Menschen auf dem CSD sein? Wie viel Queerness dürfen sie zeigen, damit die Restgesellschaft weiterhin fröhlich und ungestört an den Umzügen teilnehmen kann? Es sind Beschwerden, die seit jeher an die queeren Communities herangetragen werden – ihr wollt akzeptiert werden, dann zeigt euch doch bitte auch normal.

Das Besondere scheint diesmal zu sein, dass es keine 50-jährigen CDU-Wähler sind, die sich echauffieren, dass Pride und CSD zu freizügig seien. Nein, es sind junge Menschen, die, zumindest nach den Social-Media-Profilen zu urteilen, selbst queer oder zumindest Allies sind. Es scheint, als hätte ein Teil der Generation Z die Prüderie für sich entdeckt.
Kink. Gemeint sind bei den Umzügen damit etwa: BDSM-Outfits, Leder, Hundemasken.
Kink. Gemeint sind bei den Umzügen damit etwa: BDSM-Outfits, Leder, Hundemasken.
Der Diskurs findet sich dieses Jahr auf Reddit: „Warum tragen einige kinky Kleidung auf Pride-Paraden? Sieht dadurch nicht die ganze Community schlecht aus?“ So und ähnlich sind Threads betitelt, die über 5400 Mal hochgevotet werden und über 2000 Mal kommentiert. Oder auf Twitter, wo eine bekannte Drag Queen ihre User fragt, wieso Gen Z so ein Problem mit Kink hat. Um hunderte Kommentare junger User zu bekommen, die keine Nacktheit auf Umzügen haben wollen – der Kinder wegen. Und auch im deutschen Twitter macht sich das Thema breit: So fordert etwa ein User Anfang 20, dass Kink doch bitte getrennt vom CSD stattfinden möge.

Was ist mit „Kink“ eigentlich gemeint? Nicht-konventionelle sexuelle Praktiken, Konzepte und Fantasien werden landläufig unter diesem Begriff zusammengefasst. Gemeint ist damit in Bezug auf die Umzüge aber vor allem: BDSM-Outfits, Lederklüfte, Hundemasken. Erscheinungen also, die nicht zu diesem freundlichen und bunten Image der CSDs zu passen scheinen. Und genau da setzt die Kritik an: Wer denkt an die Kinder?

Pride sei für alle da und müsse damit jugendfrei sein. Während der erste Teil des Satzes sicherlich stimmen mag, ist der zweite zumindest fragwürdig. Das Argument, Kinder würden auf einem CSD durch den bloßen Anblick eines Leder-Daddys oder einer BDSM-Dyke geschädigt werden, ist problematisch und stellt die Freiheiten eines Teils der Community in Frage. Es ist ein Argument, das queeren Menschen seit jeher begegnet: Seid nicht so sichtbar, das ist unbehaglich. Auf den CSDs sollen also, wenn man diese Argumentation weiterdenkt, nur das schöne, bunte, unbedrohliche – also das sterile queere Leben zu sehen sein.

Zur Sichtbarkeit gehört auch das Unangepasste

Doch, auch wenn das gerne immer wieder aus dem Fokus gerät: Die CSDs und Prides sollten keine Karnevalsumzüge zum drolligen Zuschauen sein. Sie sind kein Selbstbedienungsladen für Unbeteiligte, die wählen möchte, welchen Teil queerer Existenzen sie sehen wollen und welchen nicht. Der Kampf für queere Rechte, für queere Unversehrtheit und queere Sichtbarkeit wird seit Jahrzehnten gekämpft und ist noch lange nicht am Ende. Es ist ein Kampf, der sich seit Beginn an darum drehte, welchen Identitäten eine Legitimität zugesprochen wurde – und welchen nicht. Ein Kampf darum, wer wie lieben und begehren darf, ohne dafür von Institutionen und der Gesellschaft sanktioniert zu werden. Und es ist ein Kampf, auch außerhalb der Möglichkeiten zu existieren, die eine heteronormative Gesellschaft als genehm und angenehm empfindet.

Unangepasste Umzüge, an denen Millionen Menschen weltweit teilnehmen sind der wohl sichtbarste Teil dieses Kampfes. Ja, sie stehen auch symbolisch für die vielen Bemühungen und Opfer, die Jahr ein, Jahr aus, gebracht werden müssen. Unter diesen Vorzeichen steht die Freizügigkeit, sind die Kinks und Fetische, die auch auf CSDs und Prides gezeigt werden, zu sehen. Sie sind einerseits lustvolle Bekenntnisse. Genauso sind sie aber auch Zeugnisse für Identitäten, Sexualitäten und Begehren, die von vielen Menschen nicht verstanden und verurteilt werden. Es geht eben nicht darum, Queeres als „genauso wie ihr“ zu inszenieren. Aus der Sicht der Parade müssten sich die rechtfertigen, die am Rande stehen. Das einzige Mal im Jahr. Das mag für die Zuschauenden mitunter befremdlich, unangenehm wirken. Dieses Gefühl sollte zugelassen und reflektiert werden.
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Sicherlich ist Kritik an den CSDs angebracht. Im Bunten geht das Politische oft unter. Forderungen politischer und gesellschaftlicher Natur sollten laut und sichtbar sein. Aber der Kink, das vermeintlich sexuell Deviante ist nicht das Problem. Hoffentlich vergisst Gen Z dabei nicht, dass zu queerer Sichtbarkeit auch immer das Aneckende gehört, das nicht Gefällige, der Widerstand. Die CSDs also Orte außerhalb der vorgeschriebenen Norm sind. Sie bieten Räume für lustvolles Ausleben und Darstellen von Identitäten, die außerhalb einer heteronormativen Matrix stehen.

Vom Ausschließen von Kinks und Fetischen ist der argumentative Weg nicht mehr weit, alles Unangenehme unsichtbar zu machen. Die Tabuisierung queerer Leben gerät dann als ganzes schnell wieder in einen Diskurs um „im Schlafzimmer könnt ihr machen, was ihr wollt. Aber …“. Das Private ist immer noch politisch. Und auf den CSDs geht es auch darum, Begehren sichtbar zu machen. Dass das gerade junge Menschen als anzüglich sehen, ist wohl eher das Problem, als der Kink selbst.
           

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Foto: mauritius
Erschienen im Tagesspiegel am 25.06.2021