Christopher Street Day 2021

„Je größer die Demo, desto mehr Kritik“

Birgit Bosold vom Schwulen Museum über die queere Protest-Geschichte in West- und Ostdeutschland

Von Vanessa Fischer

Birgit Bosold, in diesem Jahr finden in Berlin gleich mehrere CSD-Demonstrationen statt. Wie sahen die Anfänge der Prides aus?
Dass die Prides auf den Stonewall-Aufstand in der Christopher Street in New York zurückgehen, wissen heute fast alle. In der Nacht zum 28. Juni 1969 haben sich damals queere Menschen – darunter viele trans Menschen und People of Color – gegen die Übergriffigkeit der Polizei gewehrt. Viel weniger bekannt ist allerdings die Tatsache, dass Stonewall für die deutsche Pride-Bewegung zunächst keine Rolle spielte. Die ersten deutschen CSDs fanden nämlich erst 1979 statt: in Köln, West-Berlin, Bremen und Stuttgart. Das waren damals keine großen, kommerziellen Veranstaltungen: In West-Berlin haben ein paar hundert Leute teilgenommen, die Atmosphäre war also eher familiär.

„Je größer die Demo, desto mehr Kritik“ Image 2
Birgit Bosold ist seit 2006 erstes lesbisches Mitglied des Vorstands des Schwulen Museums. Sie ist für die Finanzen des Hauses zuständig und co-kuratierte dort unter anderem 2018 das queerfeministische „Jahr der Frau_en“.

Wieso erst zehn Jahre später?
Der transatlantische Austausch war ja nicht so intensiv, zum Beispiel weil es kein Internet gab. In den 70er Jahren sind dann aber immer mehr Menschen in die USA gereist und haben die Idee der jährlich stattfindenden Pride-Paraden mitgebracht. Das heißt natürlich nicht, dass es hier vorher keine Demos für die Rechte queerer Menschen gegeben hätte. „Unser“ Stonewall-Moment war 1969 aber eher die Liberalisierung des Paragrafen 175 und 1971 dann Rosa von Praunheims Film „Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt“. Für lesbische Frauen war auch der Mord-Prozess in Itzehoe 1974 wichtig. Die erste Demo, von der wir wissen, fand am 29. April 1972 in Münster statt. Da gab es ein erstes überregionales Treffen von schwulen und lesbischen Aktivist*innen-Gruppen.

Wie sahen diese Demos damals aus?
Es waren richtige Protestmärsche, mit Plakaten, auf denen stand: „Lieber ein warmer Bruder als ein kalter Krieger“ oder „Brüder und Schwestern ob warm oder nicht – Kapitalismus bekämpfen ist unsere Pflicht“. Eine zweite große Demo fand 1973 in West-Berlin anlässlich eines internationalen Treffens an Pfingsten statt. Nachdem dort einige im Fummel auftraten, entwickelte sich der Tuntenstreit, eine heftige Strategiedebatte. Es ging darum, ob ein solch „provokatives“ Auftreten das Bündnis mit der Arbeiter*innenbewegung gefährdet. Für lesbische Aktivist*innen, von denen sich viele als Teil der Frauenbewegung begriffen, waren auch die Walpurgisnacht-Demos wichtige Veranstaltungen.
Out and proud. Auf dem Christopher Street Day in Berlin 1986.
Out and proud. Auf dem Christopher Street Day in Berlin 1986.
Und in der DDR?
Tatsächlich war das Alltagsleben für queere Menschen dort oft leichter, weil die Strafverfolgung nicht so hart war wie in West-Deutschland: Der Paragraf 175, den die DDR im Gegensatz zur BRD nicht in der von den Nazis verschärften Fassung übernommen hatte, sondern in der liberaleren Weimarer Version, wurde 1968 abgeschafft. Schon ab Ende der 50er Jahre wurde die Verfolgung von Schwulen zunehmend ausgesetzt. Auch war es in der DDR einfacher, lesbisch zu leben: Die Frauen waren berufstätig und damit viel unabhängiger als die West-Frauen, für die es zudem oft fast unmöglich war, aus ihren Ehen rauszukommen, weil das Scheidungsrecht so restriktiv war.

Wie sah es mit Protestaktionen aus?
Mit öffentlichen Demos und politischer Organisation war es in der DDR natürlich schwieriger. Bei den Weltfestspielen der Jugend 1973 in Ost-Berlin versuchten ostdeutsche Gruppen zusammen mit einigen Teilnehmenden aus dem Westen Flugblätter gegen die Diskriminierung von homosexuellen Menschen zu verteilen. Sie wurden allerdings von der Stasi gestoppt. Was aber unter Berufung auf die Pride-Bewegung funktionierte, waren Protestaktionen in den Mahn- und Gedenkstätten, die Schwule und Lesben ab Anfang der 80er Jahre organisierten. So besuchten am 30. Juni 1984 – bewusst am Christopher-Street-Day-Wochenende – etwa 80 Personen Sachsenhausen und Buchenwald, um an die in der DDR nicht offiziell anerkannte Verfolgung schwuler Männer zu erinnern.

Wie ging es nach 1989 weiter?
Ende der 90er nahmen bereits mehrere Hunderttausend Menschen am CSD in Berlin teil, ich erinnere mich noch gut an 1998, da gab es ja das legendäre Mösenmobil – ein Tieflader mit einer riesigen Möse aus Styropor, der einen schon ziemlich langen Zug anführte. Je größer die CSDs wurden, desto mehr wurden sie aber auch für ihre Entpolitisierung kritisiert.
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Führt die Zersplitterung in sieben CSDs wie dieses Jahr zu weniger Sichtbarkeit?
Das finde ich nicht. Und historisch ist dieses Phänomen auch gar nicht so neu, denn es gab schon immer nicht nur „den“ CSD als relevante Demo. Ich hatte ja schon die Walpurgis-Demos angesprochen, der Internationale Frauentag war wichtig, auch viele Aktionen im Zusammenhang mit der Aids-Krise, Anfang der 90er dann getrennte Züge in Ost und West-Berlin. Später kam der transgeniale CSD hinzu, der Kreuzberger CSD, die Dyke*Marches – auch den „Behindert und verrückt feiern“-Pride gibt es schon einige Jahre. Beim großen CSD gehen viele Perspektiven unter. Du schaffst es ja nicht mal die ganze Parade anzuschauen. Ich würde es deshalb nicht Zersplitterung nennen. Man könnte auch sagen, es wird einfach vielfältiger und multi-dimensionaler. Und das ist doch gut!
           

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Fotos: Jürgen Ritter/Imago; Stefan Gunnesch
Erschienen im Tagesspiegel am 23.07.2021