Ein kleiner Schritt nach vorne: Zum ersten Mal wird syrischen KRIEGSVERBRECHERN der Prozess gemacht

Von Hareth Almukdad

Amer Matar steht vor dem Oberlandesgericht Koblenz und hält in seinen Händen einen Karton mit der Aufschrift: „Vor zehn Jahren war ich in Al-Khatibs Zweigstelle, heute sage ich gegen meinen Gefängniswärter aus.“ Der syrische Journalist und Filmemacher spricht von einer „Zweigstelle“ des syrischen Geheimdiensts. Leiter dieser Zweigstelle war der Offizier Anwar Raslan, der seit April 2020 in Koblenz vor Gericht steht. Amer Matar ist als Zeuge geladen, denn er wurde von Raslan gefoltert – weil er an Demonstrationen gegen das Regime teilgenommen und Fotos davon aufgenommen hatte.

Deswegen ist Amer Matars Karton nicht nur ein Slogan, sondern dokumentiert einen Prozess, der den Syrern auf dem Weg hin zur juristischen Verfolgung von Kriegsverbrechern und ihrer Rechenschaftspflicht viel bedeutet. Denn zum ersten Mal in der Geschichte wird ein Offizier des Assad-Regimes vor Gericht gestellt, innerhalb oder außerhalb Syriens, und zum ersten Mal haben Syrer die Möglichkeit, einen Teil der ersehnten Gerechtigkeit zu erreichen.
Anklage. Der Journalist Amer Matar wurde von einem Geheimdienstler gefoltert.
Anklage. Der Journalist Amer Matar wurde von einem Geheimdienstler gefoltert.
Der Albtraum für uns Syrer ist, dass die Kriegsverbrecher der Rechenschaftspflicht und Bestrafung entgehen. Aber was kürzlich in Deutschland, insbesondere in der Stadt Koblenz, passiert ist, als zwei Sicherheitsbeamte, die im syrischen Geheimdienst gedient haben, Anwar Raslan und Iyad Al-Gharib, vor Gericht gestellt wurden, gibt uns ein wenig Hoffnung, diese Verbrecher zum ersten Mal hinter Gittern zu sehen. Iyad Al-Gharib ist zu viereinhalb Jahren Haft verurteilt worden, das Urteil gegen Anwar Raslan wird voraussichtlich im Herbst fallen.

Amer Mater wurde 2011 nach 16 Tagen aus dem Gefängnis entlassen, kehrte zurück, um seine journalistische Arbeit fortzusetzen, und drehte mehrere Kurzfilme über die Situation in Syrien. Er wurde im September erneut verhaftet und blieb vier Monate in Haft. Nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis 2012 erhielt er ein Stipendium des PEN-Zentrums Deutschland und zog nach Berlin.

Sein Folterer Anwar Raslan lebt seit 2014 als politischer Flüchtling in Deutschland, wo er vom Außenministerium ein außergewöhnliches Visum erhielt. Im Februar 2019 erließ die deutsche Staatsanwaltschaft einen Haftbefehl gegen ihn wegen des Verdachts der Begehung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Die Symbolik dieses Prozesses ist für Journalisten und syrische Bürger gleichermaßen wichtig, er hat vielen Menschen Mut gemacht, andere Kriminelle vor verschiedenen Gerichten zu verklagen. Es ist wahr, dass dieser Prozess ein kleiner Schritt ist, aber er geht in die richtige Richtung, und wir brauchen größere Schritte und mehr Prozesse gegen alle Kriegsverbrecher in Syrien in den letzten zehn Jahren, damit diese Verbrecher, die der Bestrafung entkommen sind, von weiteren Zeugen ohne Angst vor Strafverfolgung angezeigt werden können. Ein Verbrecher muss strafrechtlich verfolgt werden. Wenn wir hier über Gerechtigkeit sprechen, meinen wir nicht die eine oder andere Partei, sondern alle Parteien, die an Menschenrechtsverletzungen in Syrien beteiligt waren und sind.
                     

Der neue Ehrentitel

In der Türkei werden oppositionelle Journalisten und Bürger als TERRORISTEN bezeichnet – manche sind stolz darauf

Terror“ und „Terrorismus“ sind Wörter, die überall in der Welt ähnliche Assoziationen auslösen. In der Türkei allerdings hat sich die Bedeutung dieser Wörter leider verschoben. Denn jeder Schritt, jede Kritik der Opposition wird in der Türkei als „terroristische Propaganda“ bezeichnet. Deswegen würden Oppositionelle sogar echte Terroranschläge nicht mehr als Terroranschlag bezeichnen, weil sie selbst so oft Terroristen genannt werden.

Die herrschende Macht in der Türkei beschuldigt erst die Journalist:innen und Politiker:innen und dann auch einfache Bürger:innen, dass sie mit ihren Worten angeblich Propaganda für eine terroristische Organisation machen bzw. einer terroristischen Organisation helfen. Zuerst werden die Oppositionellen in regierungsnahen Medien quasi öffentlich vorverurteilt, und wenn dieser Prozess abgeschlossen ist, werden sie festgenommen und in Gefängnisse gebracht. Die Regierung, die die Vorverurteilung durch die Medien herbeigeführt hat, gibt dann eine quasi-demokratische, scheinbar neutrale Erklärung zu den Verhaftungen ab. Sie sagt: „Die Justiz ist unabhängig, wir werden den Gerichtsprozess verfolgen.“

Als Terrorist deklariert zu werden ist in der türkischen Republik inzwischen normal. Niemand versucht mehr zu widersprechen und zu sagen: „Oh nein, ich bin kein Terrorist!“ Viele Menschen, die von der Regierung zu Terroristen erklärt wurden, tragen diese Bezeichnung sogar als Ehrentitel. Ich kenne Menschen in Berlin, denen in der Türkei ein Prozess wegen „terroristischer Propaganda“ gemacht wird. Wenn sie mir sagen, „ich habe einen Propagandaprozess“, würde ich nie fragen: „Was, bist du wirklich ein Terrorist?“ Denn wir haben uns daran gewöhnt. Wenn die Hälfte der Bevölkerung als Terroristen bezeichnet wird, stimmt etwas nicht.

Die Leute gewöhnen sich an „Terroristen“ als Nachbarn

Ich wollte ein Interview mit einem türkischen Professor führen, der sich auf Journalismus spezialisiert hat. Aber als ich ihm das Thema Pressefreiheit nannte, lehnte er mit folgender Begründung ab: „Dieses Problem betrifft nicht nur Journalisten. Auch ganz normale Bürger:innen werden wegen ,Terrorismus’ angeklagt.“ Es stimmt: Wenn einfache Bürger:innen als Terrorist:innen bezeichnet werden, dürfen wir nicht nur über Pressefreiheit, wir müssen über Menschenrechte reden.

Menschen werden in Gefängnissen in der Türkei gefoltert, nackt untersucht, von Soldaten in ihrem Dorf festgenommen. Reporter Ohne Grenzen listet die Türkei in der Rangliste der Pressefreiheit 2021 auf Platz 153 von 180 Ländern. Natürlich muss die Presse frei sein. Aber die Pressefreiheit ist nicht mehr das wichtigste Thema. Früher wurden Journalisten verhaftet, keine Abgeordneten. Jetzt wird jeder verhaftet. Klingt vielleicht übertrieben, ist aber die Wahrheit. Studenten der Bogaziçi-Universität wurden wegen „terroristischer Propaganda“ verurteilt, weil sie gegen den von Recep Tayyip Erdogan eingesetzten Rektor protestiert haben. Wer bleibt noch in diesem Land, der nicht zum Terroristen erklärt wurde?

Ohne Hoffnung ist die türkische Bevölkerung aber nicht. Bei der Landtagswahl haben die AKP und MHP wichtige Städte wie Istanbul, Ankara, Antalya, Adana und Mersin verloren. Alle, die Demokratie und Freiheit in der Türkei wollen, arbeiten weiter daran. Die herrschende Macht in der Türkei, die mich und viele andere ins Exil gezwungen hat, hat immer noch nicht geschafft, die Antidemokratie in der Gesellschaft für normal zu erklären. Im Gegenteil, die Leute gewöhnen sich daran, terroristische Nachbar:innen zu haben. Das Wort Terrorist hat einen neuen Klang bekommen. Isa Can Artar
Foto: Fares Almatar
Erschienen im Tagesspiegel am 03.05.2021