Welt von Nebra

Geist der Bronzezeit

Die Welt vor 4000 Jahren war globalisierter, als wir denken. Die Elite von Nebra hatte weitreichende Kontakte, von England bis in den Nahen Osten

Von Rolf Brockschmidt

Stonehenge, Babylon, Ugarit, Qatna und das Mittlere Reich der Ägypter: alles magische Namen der Archäologie, die für imposante Bauwerke, Paläste und kulturelle Errungenschaften stehen. Was können sie mit Sachsen-Anhalt und der Kultur von Aunjetitz zu tun haben, die am Ende der Steinzeit aus den Kulturen der Glockenbecher und der Schnurkeramik hervorging? Nichts, hätte man vermutlich noch vor 25 Jahren gesagt. Doch mit dem Auftauchen der Himmelsscheibe von Nebra 1999, die nach einer abenteuerlichen Geschichte seit nun 20 Jahren im Landesmuseum für Vorgeschichte in Halle aufbewahrt und erforscht wird, hat sich die Situation schlagartig verändert. Die 3800 Jahre alte Scheibe, seit 2013 UNESCO-Weltdokumentenerbe der Menschheit, ist wahrscheinlich eines der am besten erforschten archäologische Fundstücke überhaupt. Die vielen Rätsel, die dieses Objekt aufgibt, werden nun nach und nach gelöst. Mit der Landesausstellung „Die Welt der Himmelscheibe von Nebra – Neue Horizonte“ präsentiert das Landesmuseum für Vorgeschichte in Halle die neusten Forschungsergebnisse aus den vergangenen 18 Jahren.

Mit dem Auftauchen der Himmelscheibe und ihrer schrittweisen Entschlüsselung, der Erforschung des Ringheiligtums von Pömmelte und des großen Grabhügels von Bornhöck weitete sich der Horizont. Plötzlich erscheint die Welt der bronzezeitlichen Aunjetitzer Kultur in einem größeren kulturhistorischen Zusammenhang. Dieser reicht von Stonehenge bis nach Babylon und Ägypten. Harald Meller, Direktor des Landesmuseums für Vorgeschichte in Halle, und Kai Michel erzählen diesen faszinierenden historischen Kontext in ihrem neuen Buch „Der Griff nach den Sternen. Nebra, Stonehenge, Babylon: Reise ins Universum der Himmelsscheibe“.
Neu arrangiert. Die Himmelsscheibe wurde um 1600 vor Christus mit zwei Schwertern, zwei Beilen, einem Meißel und zwei Armspiralen auf dem Mittelberg vergraben. Die jetzige Anordnung entspricht nicht der damaligen Fundsituation.
Neu arrangiert. Die Himmelsscheibe wurde um 1600 vor Christus mit zwei Schwertern, zwei Beilen, einem Meißel und zwei Armspiralen auf dem Mittelberg vergraben. Die jetzige Anordnung entspricht nicht der damaligen Fundsituation.
Schon die ersten Analysen der Himmelsscheibe hatten ergeben, dass das Zinn und das Gold aus Cornwall und das verwendete Kupfer aus Österreich stammen, womit schon erstaunliche Handelswege für die Zeit vor knapp 4000 Jahren erkennbar waren. Damit war es Zeit, sich von lieb gewordenen Vorurteilen zu verabschieden. Globalisierung ist kein Phänomen unserer Tage, sondern hat es schon immer gegeben, wie die Ausstellung „Bewegte Zeiten“ vor drei Jahren im Martin-Gropius-Bau oder die jüngsten Forschungen zur untergegangenen Welt von Doggerland vor 8000 Jahren gezeigt haben. Faszinierend ist dabei, was Archäologen in Zusammenarbeit mit naturwissenschaftlichen Disziplinen heute aus den Funden herausholen. Denn es geht um Zeugnisse einer schriftlosen Kultur.

Allein die Technik des Tauschierens – also wie der Handwerker zwischen 1800 und 1750 vor Christus die goldenen Himmelskörper auf die Bronzescheibe gebracht hat – weist auf ein Knowhow hin, das aus der Ägäis kommt, ein weiteres Indiz für Fernbeziehungen. Weitere Hinweise auf solche Kontaktefindet man bei der Analyse der Darstellungen auf der Himmelsscheibe. Was zeigt sie eigentlich und wo kommt dieses Wissen her? Neueste Forschungen haben ergeben, dass die Anordnungen der Himmelskörper auf der Scheibe auf importiertes Wissen aus Mesopotamien hinweisen, auf eine Keilschrifttafel MUL. APIN aus dem 7. bis 3. vorchristlichen Jahrhundert. Auf der Himmelscheibe wurde in einem genialen Bilderrätsel eine Schaltregel festgehalten, um das Mond- und das Sonnenjahr, die sich um elf Tage unterscheiden, zu synchronisieren. Die Entschlüsselung der Himmelsscheibe ist komplex, aber festzuhalten ist, dass bei einer dritten Umarbeitung der Himmelscheibe eine goldene Sonnenbarke hinzukam, die eindeutig auf ägyptische Einflüsse hinweist.

„Kalender regulieren Feste, Abgaben und Dienstverpflichtungen, Durch die Synchronisation, also die zeitliche Gleichschaltung, erst verschmelzen viele Menschen zu einem Staatswesen,“ schreiben Meller und Michel. Sie gehen davon aus, dass in einem sich bildenden Staatsgebilde mit einer starken Differenzierung von oben und unten Herrschaft legitimiert werden musste - durch Beziehungen zu den Göttern. Eine mögliche Erklärung sehen die Autoren darin, dass jeweils eine hochstehende Persönlichkeit, vielleicht ein Fürstensohn, sich einmal auf eine Reise nach Babylon und einmal nach Ägypten aufgemacht haben könnte und das dort gewonnene Wissen zur Legitimierung von Herrschaft mitgebracht habe. Dass Fernreisen dieser Größenordnung damals möglich waren, mag heute noch verwundern, doch weisen archäologische Funde nach, dass es diese Kontakte gegeben haben muss, denn wie sonst kämen blaue, mesopotamische Glasperlen nach Europa oder Bernsteinobjekte aus dem Ostseeraum in den Nahen Osten? „Die Idee einer Reise aus dem Herzen Europas zu den frühen Hochkulturen sollte jetzt nicht mehr so fantastisch erscheinen. Die Etappe Nebra-Alpen spielte sich unter Freunden ab, die Verbindungen von Kreta nach Babylon existierten ohnehin, wenn auch über viele Zwischenstationen“, schreiben die Autoren. „Es herrschte reger Austausch, Menschen aus den verschiedensten Kulturen standen im ständigen Kontakt, tauschten Dinge, Informationen und Ideen. Die Interaktion der Eliten, die Vielfalt des Fernhandels blühten hier. Das war der Geist der Bronzezeit! Sie alle einte der Griff nach den Sternen“, schreiben Meller und Michel.

Bei Pömmelte wurden Spuren von 80 Langhäusern entdeckt

Weitere Indizien für die Vernetzung der bronzezeitlichen Welt liefern seit 2018 die Ausgrabungen in Pömmelte, dem deutschen Stonehenge, das exakt die gleichen Dimensionen aufweist wie sein englisches Pendant, nur dass es aus Holzpfählen gebaut ist. Die freigelegten Spuren der 80 Langhäuser deuten auf die größte derartige Siedlung in Mitteleuropa. Und auch das Sonnenheiligtum von Goseck deutet darauf hin, dass es hier im heutigen Sachsen-Anhalt eine Kultlandschaft gegeben hat, die in enger Beziehung zu der von Stonehenge, zur sogenannten Wessex-Kultur stand. Auch weist die Gesellschaft dieser Zeit eine strenge Hierarchisierung auf, was sich etwa in der konzentrierten Aufbewahrung von Waffen unter „staatlicher“ Aufsicht beispielsweise im Hort von Dieskau III im Saalekreis ausdrückt. Ähnliche Phänomene finden sich zur gleichen Zeit im Reich von El Argar in Südspanien, aber auch auf Kreta. Kontakte bestanden auch zur mykenischen Kultur und dem Reich von Qatna im heutigen Syrien. Das heißt, die Welt vor rund 4000 Jahren war weitaus vernetzter als man sich das lange vorgestellt hat.

Interessant ist, dass die Wessex-Kultur und das Reich von El Argar zu dem Zeitpunkt untergingen, als auch die Bewohner von Nebra die Himmelsscheibe nebst Schwertern auf dem Michelsberg niederlegten, um eventuell die Götter milde zu stimmen. Was war geschehen? Meller und Michel sehen in dem Vulkanausbruch von Thera in der Ägäis eine Ursache: „Dank der aerosol-gesättigten Luft nach dem Vulkanausbruch ging die Sonne in blutroten Himmelspektakeln auf und unter. Zeigte das nicht das Ausmaß der Bedrohung, die Übermacht der Feinde, die dem Sonnengott angesichts der himmlischen Mengen an Blut galaktische Schlachten liefern mussten? Wer wollte da noch dem König folgen? Widersacher witterten ihre Chance, Aufstände folgten,“ schreiben sie. Wahrscheinlich habe man versucht, die Himmelsscheibe auf eine Reise in die Unterwelt zu schicken, um strahlend wiedergeboren zu werden. Aber die Wiedergeburt blieb Raubgräbern überlassen, die sie 1999 ausgruben und bei dem Versuch sie zu verkaufen, in die Öffentlichkeit brachten.

Für Meller und Michel steht fest: „Die Himmelsscheibe von Nebra ist Produkt und Zeugnis einer erstaunlich eng verflochtenen Welt, die von Stonehenge bis nach Babylon vom Griff nach den Sternen geeint war.“
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UNESCO Welterbe Sachsen-Anhalt

Mahlsteine und Waffen

Besaß die Aunjetitzer Kultur eine staatliche Ordnung?

„Die Arbeiter wurden erst durch das Klappern aufmerksam, so dass von der ursprünglichen Lagerung der Fundstücke nichts mehr zu sehen war.“ Was diese Arbeiter 1937 bei Dieskau (Sachsen-Anhalt) beim Abbaggern der Braunkohle gefunden hatten, war sensationell: 293 Beile, zwei ganze Äxte und eine halbe Doppelaxt, vier Ringe, eine Stabdolchklinge, sechs Armspiralen und weitere Bronzefragmente waren wohl ursprünglich in einem oder mehreren Tongefäßen vergraben worden. Ein bemerkenswerter Fund, denn vorher kannte man nur Gräber mit einzelnen Kriegern und ihren Waffen.

Dieser „Hort von Dieskau III“, wie er nun offiziell heißt, ist ein bedeutendes Zeugnis frühbronzezeitlicher Handwerkskunst aus der Zeit der Aunjetitzer Kultur, kurz gesagt, der Welt von Nebra. Eine Konzentration gleicher Waffen mit gleichen Gebrauchsspuren in dieser Häufigkeit deutet auf eine organisierte bewaffnete Einheit hin, zumal manche Waffen von hervorgehobener Qualität sind, wahrscheinlich die des Anführers.
Gewaltmonopol. Der Hort von Dieskau III umfasst 293 Beile (Ausschnitt) mit ähnlichen Gebrauchsspuren, vielleicht einer Armee-Einheit?
Gewaltmonopol. Der Hort von Dieskau III umfasst 293 Beile (Ausschnitt) mit ähnlichen Gebrauchsspuren, vielleicht einer Armee-Einheit?
Der Hortfund legt nahe, dass die Aunjetitzer in Mitteldeutschland in der Lage waren, durch bestimmte Gussverfahren identische Waffen gleicher Qualität herzustellen. Harald Meller, Direktor des Landesmuseums für Vorgeschichte in Halle, deutet den Fund im Kontext anderer Belege als Indiz für eine gewisse staatliche, wehrhafte Ordnung der Aunjetitzer Kultur. Mit Kampfgerät besonderer Qualität wurden offensichtlich nur noch die Anführer bestattet, während die übrigen Männer wohl ihre Waffen vom Fürsten verliehen bekamen, sie aber später wieder abgeben mussten. Was auf ein Gewaltmonopol hindeutet.

Meller bringt diese Hortfunde von Dieskau mit ihren knapp 300 Beilen in Zusammenhang mit dem reichen Goldfund und dem Großgrabhügel von Bornhöck, für ihn weitere Anzeichen für eine zentrale Bedeutung der Region. Auch der Fund übergroßer Mahlsteine bei Bornhöck deute darauf hin, dass diese zur Versorgung einer größeren Menge von Menschen gebraucht wurden, etwa für eine militärische Einheit. Dazu passt eine Entdeckung in Dermsdorf, Thüringen. Dort hat man ein großes dreischiffiges Langhaus ausgegraben. In einem Keramikgefäß an prominenter Stelle entdeckte man 98 Beile und zwei Stabdolchrohlinge. Die Archäologen haben berechnet, dass in diesem Haus 98 bis 100 Personen hätten Platz finden können.

All diese Erkenntnisse können als Belege für eine mögliche Fürstenherrschaft gedeutet werden, „die mittels bewaffneter Truppen den Frieden sicherte“, wie Meller und Brunnefeld im Begleitbuch zur Ausstellung schreiben. Da es in der Aunjetitzer Kultur keine Paläste und keine Tempel gab und auch keine Stadtbevölkerung, kann das enorme Potenzial der Mahlsteine nur auf eine Getreideversorgung für Truppen hindeuten, die die unbefestigten Siedlungen im flachen fruchtbaren Land wie etwa bei Pömmelte zu schützen hatten. Walter van Hoof
               

Service

Rund um Nebra

Die Landesausstellung Sachsen-Anhalt 2021 „Die Welt der Himmelsscheibe von Nebra – Neue Horizonte“ findet vom 4. Juni 2021 bis zum 9. Januar 2022 im Landesmuseum für Vorgeschichte Halle (Saale), Richard-Wagner-Str. 9 statt. Die Ausstellung ist ein Kooperationsprojekt mit dem British Museum in London.
Telefon: +49 345 5247-30
Telefax: +49 345 5247-351
info@landesmuseum-vorgeschichte.de
Tickets: 10 Euro, ermäßigt 8 Euro.
Öffnungszeiten: Dienstag bis Freitag 9–17 Uhr
Aktuelle Hinweise zum Besuch und die damit verbundenen Hygienemaßnahmen: www.landesmuseum-vorgeschichte.de/besuch.html.
Begleitband 240 Seiten, 19,80 Euro.

Gleichzeitig ist erschienen: Harald Meller und Kai Michel: Griff nach den Sternen. Nebra, Stonehenge, Babylon: Reise ins Universum der Himmelsscheibe. Propyläen Verlag, München 2021, 272 Seiten, 39 Euro.
Tsp
Fotos: © LDA Sachsen-Anhalt, Juraj Lipták
Erschienen im Tagesspiegel am 04.06.2021