75 Jahre Unicef

Die verzweifelten
Kinder am Hindukusch

Internationale Hilfsorganisationen sind auf die Unterstützung der Taliban angewiesen, wenn sie im Land arbeiten und etwas bewirken wollen. Es ist eine Gratwanderung, aber sie ist notwendig. Wenn nicht geholfen wird, droht in diesem Winter Millionen Afghanen der Hungertod

Von Hella Kaiser

Das ZDF-Team war zum Dreh nach Masar-e Scharif gefahren. Reporterin Katrin Eigendorf stand auf dem Platz vor der Blauen Moschee, als ein paar Mädchen auf sie zuliefen. Wollten sie, die offensichtlich auf der Straße lebten, die Deutsche um Geld bitten? Nein. Sie bedeuteten ihr, in die Hocke zu gehen und banden ihr dann den Schal fester um den Kopf, drapierten die Enden eng um den Hals. Alles musste, im Sinne der Religion, gut verpackt sein. Es war Herbst – und die Taliban waren erst ein paar Wochen an der Macht.

Und nun? Was wird aus diesen Straßenmädchen, was wird überhaupt aus den Kindern in diesem Land? „Afghanistan ist seit vielen Jahren einer der schlimmsten Orte der Welt, um ein Kind zu sein. In den letzten Wochen ist es noch schlimmer geworden“, sagt Mustapha Ben Messaoud, Leiter der Unicef-Nothilfe in Afghanistan. Schätzungen zufolge benötigen zehn Millionen Mädchen und Jungen humanitäre Hilfe. Bis Ende des Jahres könnten eine Million Kinder derart mangelernährt sein, dass sie sterben werden.

Schon vor der Machtübernahme der Taliban galt Afghanistan als eines der ärmsten und korruptesten Länder der Welt. „Der Staat war ja vorher im Prinzip mit seinem Budget schon zu zwei Dritteln abhängig von internationalen Finanzen“, sagt Katrin Eigendorf. Seit die Regierungsgelder eingefroren sind, hätten die Menschen eigentlich kein Einkommen mehr. 40 Prozent der Einwohner arbeiteten im Dienstleistungssektor, doch der ist fast komplett zusammengebrochen. Noch gravierender ist die Lage in der Landwirtschaft, in der ebenfalls rund 40 Prozent der Menschen beschäftigt waren. Aufgrund einer lang anhaltenden, verheerenden Dürre konnte in diesem Jahr kaum etwas geerntet werden.

Eine verheerende Dürre vereitelte die letzte Ernte

„Das Haupternährungsmittel in Afghanistan ist Brot. Brot wird aus Weizen hergestellt, aber das Getreide wächst nicht mehr“, erklärt Katrin Eigendorf. Afghanistan müsse fast 90 Prozent des Weizens importieren, vorwiegend wurde das Getreide aus Kasachstan bezogen. „Um aber Weizen importieren zu können, brauchen die Afghanen Devisen. Sie haben aber keine."

Was also ist zu tun? Muss und kann man mit den Taliban zusammenarbeiten? „Die Taliban sind verantwortlich für unsere Sicherheit im Land“, sagt Sam Mort, Leiterin Kommunikation für Unicef in Afghanistan. „Wir arbeiten mit ihnen zusammen, damit wir unsere Missionen für die Kinder im Land durchführen können.“ Katrin Eigendorf bestätigt das: „Jede Hilfsorganisation, die ins Land geht, muss mit den Taliban zusammenarbeiten“, Das fange bei der Einreise ein, und man brauche natürlich auch Dokumente, um sich im Land aufhalten zu können. Das gelte ja auch für Journalisten.

Die Taliban hätten großes Interesse daran, dass die Hilfsorganisationen im Land bleiben. Neben Unicef sind das etwa „Save the Children“ und „Ärzte ohne Grenzen“ oder die „Welthungerhilfe“. Das ZDF-Team konnte die Übergabe einer Medikamentenlieferung der deutschen Hilfsorganisation „Archemed“ im Indira-Ghandi Krankenhaus in Kabul filmen. Darunter war Spezialnahrung für die schwächsten kleinen Patienten. „Für alle reicht es nicht“, sagte der Arzt. Das bedeutet: tägliche Triage. „Je näher an den Menschen dran die Hilfe verteilt wird, desto weniger fällt sie in korrupte Strukturen“, erklärt die Korrespondentin. Auch im Indira-Ghandi Krankenhaus sollte offenbar „etwas abgezweigt“ werden. Für Ordnung sorgte dann eine herbeigerufene Abordnung der Taliban. Dass die Korruption unter der Herrschaft der Taliban im Verhältnis zur vorigen Regierung etwas zurückgegangen ist, wird von Beobachtern bestätigt. Hilfsorganisationen könnte das die Arbeit im Land erleichtern.

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Notwendige Annäherung:
Katrin Eigendorf beim Dreh in Afghanistan

Unicef etwa arbeitet mit 60 mobilen Teams in Afghanistan, 100 sollen es noch werden bis zum Ende dieses Jahres. Seit 70 Jahren ist die Hilfsorganisation in Afghanistan aktiv, und kann auf ein dichtes Netzwerk und wertvolle Kontakte zurückgreifen. Die Teams fahren auch in abgelegene Gegenden, um dort bedürftige Familien zu unterstützen. Und das sind viele: Etwa die Hälfte der Bevölkerung weiß nicht, wie und woher sie die nächste Mahlzeit bekommen soll. Es gibt kaum Krankenhäuser und dort, wo noch Hospitäler existieren, verzweifeln Ärzte und Schwestern an der Situation. Einfachste medizinische Werkzeuge fehlen, Medikamentenschränke sind leer.

Und mit dem Winter, in dem die Temperaturen bis auf minus 20, 25 Grad fallen können, wird die Situation noch bedrohlicher. „Familien brauchen dringend Decken, warme Kleidung und Planen für ihre Unterkünfte“, sagt Sam Mort. Man bemühe sich auch, Heizmaterial für die Schulen zu beschaffen.

Noch können auch Mädchen die Schulen besuchen, allerdings meist nur bis zur 6. Klasse. Lediglich im Norden des Landes dürfen auch ältere Mädchen noch am Unterricht teilnehmen. Es heißt, die Kinder müssten zunächst nach den Geboten der Scharia erzogen werden. Kürzlich kam die Nachricht, dass Frauen keine Filme mehr drehen dürfen und auch nicht mehr als Darstellerinnen auftreten dürfen. Hatte man nicht gehofft, dass die „neuen“ Taliban anders seien als die „alten“? Katrin Eigendorf kennt die Realität. Sie berichtet von einem Interview, das sie mit dem Sprecher des sogenannten Tugendministeriums geführt hat. Haben sich die Taliban verändert, habe sie ihn gefragt. „Da hat er ganz klar nein gesagt.“ Die Ideologie sei dieselbe, das sagen auch andere Experten.

Kein Wunder also, dass die Internationale Gemeinschaft von Weltbank über IWF, Europäische Union und auch Einzelstaaten zögert, Geld direkt an die Taliban auszuzahlen. „Das würde ja de facto der Anerkennung einer Terrororganisation an der Macht gleichkommen“, sagt Eigendorf. Und das verbietet sich.
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Unicef
Doch die Taliban sind darauf angewiesen, dass Geld ins Land kommt. Sie betonen ihr Interesse an Entwicklungshilfe und versprechen, dass die Hilfe dort ankommt, wo sie gebraucht wird. Sie garantieren auch Sicherheit für ausländische Organisationen.

Dennoch könnten manche potentielle Spender mit Zuwendungen geizen, aus Sorge, damit die Taliban zu unterstützen. Eine zynische Überlegung, findet Katrin Eigendorf. „Dann würde man ja in Kauf nehmen, dass eine Bevölkerung verhungert. Die Menschen haben die Taliban ja nicht gewählt, die haben sich ja an die Macht geputscht.“

Die Taliban versprechen den Helfern Sicherheit

Grundsätzlich sieht sie eine „doppelte Abhängigkeit“. „Wenn wir in dem Land weiter tätig sein wollen, müssen wir mit den Taliban arbeiten. Aber die Taliban müssen, wenn sie das Land nicht in den totalen Kollaps treiben lassen wollen, auch mit uns zusammenarbeiten.“ Sie denke, dass die Taliban „mehr von uns abhängig sind, als wir von ihnen“.

Das ermöglicht einen gewissen Druck. „Wenn wir sagen, wir verlangen, dass Menschenrechte eingehalten werden, dass Frauenrechte eingehalten werden, wir bestehen darauf, dass Mädchen weiter zur Schule gehen können, sonst gibt es eben keine Unterstützung, das ist schon ein vernünftiger Hebel.“ Und es gebe durchaus positive Signale. „Die Taliban haben vor Kurzem entschieden, dass Mädchen nicht mehr beim Streit von Familien als Faustpfand verkauft werden dürfen“, sagt Katrin Eigendorf. Es sei eine Praxis vor allem in ländlichen, paschtunischen Gebieten, dass bei Fehden zwischen Familien Mädchen praktisch als Entschädigung übergeben werden. Diese Praxis hätten die Taliban nun untersagt. Die Korrespondentin sieht darin ein Signal, dass sie bereit sind, bestimmte Dinge nachzujustieren. Noch seien die Taliban erst kurz an der Macht, Veränderungen seien möglich, noch sei nichts „in Stein gemeißelt“.

Afghanistan – ein Land in Not. Schätzungen zufolge ernähren sich rund 90 Prozent der Bevölkerung derzeit nur noch von Brot, das in gesüßten Tee getunkt wird. Was ist zu tun? Unicef listet auf: 28 Euro kostet Erdnusspaste für ein mangelernährtes Kind für einen Monat, 90 Euro sind auszugeben für 18 Fleecedecken, 148 Euro kosten etwa vier „Erste-Hilfe-Sets“ mit Medikamenten und Verbandszeug.

Und was passiert, wenn wir nicht helfen? „Wir werden, wenn sich das jetzt so weiterentwickelt, die schlimmste humanitäre Katastrophe nach dem 2. Weltkrieg erleben“, sagt Eigendorf. Die globale Gesellschaft ist gefordert.
Fotos: picture alliance / Hannibal Hanschke/dpa, Twitter/Katrin Eigendorf
Erschienen im Tagesspiegel am 10.12.2021