Welt von Nebra

Die Spur der Sterne

Die Kulturlandschaft um Nebra ist so reich wie die von Stonehenge. Unter der Bezeichnung „Himmelswege“ kann sie erkundet werden

Von Walter van Hoof

Mit kühnem Schwung erhebt sich die golden glänzende „Arche Nebra“ über dem Unstruttal am Fuße des Mittelberges. Der markante Entwurf von Holzer Kobler Architekturen aus Zürich erinnert schon im Baukörper an die Sonnenbarke auf der Himmelsscheibe. Die gelb eloxierte Aluminiumfassade bietet je nach Sonneneinfall ein faszinierendes Lichtspiel. In der „Arche Nebra“ wird nicht die Himmelsscheibe aufbewahrt – die befindet sich im Landesmuseum für Vorgeschichte in Halle – aber in diesem Besucherzentrum kann man sich seit 2007 über die Himmelsscheibe informieren. Im eigenen Planetarium erfährt man in einer 22minütigen Show einiges über die astronomischen Hintergründe.

Das Gebäude markiert aber nicht den originalen Fundort, denn das war auf Grund der Naturschutzbestimmungen nicht möglich. Ein 3,5 Kilometer langer Spaziergang führt auf den Michelberg, wo eine leicht gewölbte polierte Platte aus Edelstahl, das „Himmelsauge“, den originalen Fundort markiert, wo Raubgräber 1999 die Himmelsscheibe ausgegraben hatten. Hier lag sie 3600 Jahre verborgen. Ein 30 Meter hoher Aussichtsturm, der um zehn Grad geneigt ist und daher wie der Zeiger einer überdimensionierten Sonnenuhr wirkt, ermöglicht den Besuchern den Blick nach Westen, den einst die Menschen der Aunjetitzer Kultur hatten, als sie auf dem damals unbewaldeten Berg die Himmelsscheibe niederlegten. Ein senkrechter Schnitt spaltet den Turm und zeigt die Sichtachse zum Brocken an, wo zur Sonnenwende die Sonne unterging. Ein weiterer Fixpunkt in der Landschaft ist der Kyffhäuser mit dem Kulpenberg.
Himmlisches Rund. Das rekonstruierte Sonnenobservatorium von Goseck, Blick nach Südwesten.
Himmlisches Rund. Das rekonstruierte Sonnenobservatorium von Goseck, Blick nach Südwesten.
Das Ringheiligtum von Pömmelte. Genauso groß wie Stonehenge.
Das Ringheiligtum von Pömmelte. Genauso groß wie Stonehenge.
In den letzten 20 bis 30 Jahren hat man neben dem Fundort der Himmelsscheibe eine ganze Kulturlandschaft aus der späten Steinzeit und frühen Bronzezeit ausgegraben. In ihrer Bedeutung ist diese Landschaft um die Funde von Goseck, Pömmelte, Langeneichstädt und dem Michelberg durch aus mit dem englischen Stonehenge vergleichbar. Unter dem Label „Himmelswege“ setzt man die einzelnen Fundorte in Sachsen-Anhalt zueinander in Beziehung und versucht sie so besser für Touristen zu erschließen.

Bereits 1987 wurde bei Feldarbeiten ein Steinkammergrab bei Langeneichstädt aus der Zeit von 3600 und 2700 vor Christus gefunden. Darin befand sich ein 1,76 Meter großer Menhir, an dessen oberster Stelle sich Ritzungen zeigen. Ein Oval mit Querstrichen und einem senkrechten Strich deuten die Archäologen als Gesicht der "Dolmengöttin". Auch kann man weitere Ritzungen als Krummstab und Axt deuten. An einer Stelle ist der Stein recht glatt, als sei er bei kultischen Handlungen oft berührt worden. Es könnte sich bei der Stele um ein Fruchtbarkeitssymbol handeln. Vor Ort steht eine Kopie, das Original befindet sich im Landesmuseum für Vorgeschichte in Halle.

Beim Überfliegen des trockenen Landes wurde 1991 die Struktur einer Kreisgrabenanlage bei Goseck entdeckt, die zu Beginn der Jungsteinzeit datiert und somit etwa 7000 Jahre alt ist. Die Anlage wurde ausgegraben und rekonstruiert und ist mit ihren 75 Metern Durchmessern eine von 15 in Mitteldeutschland nachgewiesenen Kreisgrabenanlagen, dafür aber die älteste und vollständig ausgegrabene aus dieser Zeit.

Die Anlage besteht aus Pfostenringen und Gräben. Die Architektur des inneren Palisadenringes schirmt innen vor Geräuschen ab und verstärkt zugleich das gesprochene Wort. Die zwei Eingänge haben eine besondere Funktion. Am Abend der Wintersonnenwende geht die Sonne im Südwesttor unter und am nächsten Morgen am Südosttor wieder auf. Ob es einen astronomischen Bezug zur Himmelsscheibe gibt, die wesentlich jünger ist, ist noch nicht erforscht.

Dass die Region in der späten Steinzeit und der frühen Bronzezeit bedeutend war, zumal sie über äußerst fruchtbare Schwarzerdeböden verfügt, beweist die Entdeckung der Sakrallandschaft von Pömmelte und Schönebeck mit ihren beiden Sonnenheiligtümern, die in der Größe und ihrer Anordnung denen von Stonehenge und Durrington Walls entsprechen. Beide Anlagen wurden ebenfalls 1991 beim Überfliegen entdeckt.

Bei Feldarbeiten wurde ein Steinkammergrab mit einem Menhir gefunden

Erbaut wurde die Anlage von Pömmelte von den sogenannten Glockenbecherleuten im späten dritten Jahrtausend vor Christus. Gegründet wurde sie an der Elbe dort, wo zuvor die ältere Schnurkeramik-Kultur ihr Heiligtum gegründet hatte. Die nachfolgende Aunjetitzer Kultur, die das Reich von Nebra begründete, setzte diese Tradition fort. Das vollständig rekonstruierte Ringheiligtum von Pömmelte mit einem Durchmesser von 115 Metern (wie Stonehenge) lässt sich gut von einem neun Meter hohen Turm betrachten. Auch hier orientieren sich die Hauptzugänge an Sonnenauf- und Untergang an den Mittvierteljahresfesten. Seit 2018 wird die danebenliegende Siedlung von der Martin-Luther Universität Halle-Wittenberg, der University of Southhampton und dem Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt erforscht.

Es wurden Pfostenlöcher von mindestens 80 Langhäusern freigelegt sowie Ansätze weiterer Gebäude, sodass man jetzt schon von der größten Siedlung jener Zeit in Europa sprechen kann. Und die Ausgrabungen sind noch nicht beendet.

1,4 Kilometer von Pömmelte entfernt liegt das Ringheiligtum von Schönebeck mit einem Durchmesser von 80 Metern, allerdings hat diese Anlage im Gegensatz zu Pömmelte keine Schachtgruben, keine Gräber und keine Opferdeponierungen. Die Archäologen führen das auf eine veränderte Ritualpraxis zurück, die nur noch einer Elite vorbehalten war. Funde zu Pömmelte und Schönebeck befinden sich im nahegelegenen Salzlandmuseum Schönebeck, aber natürlich auch im Landesmuseum in Halle, der letzten Station der „Himmelswege“.

Für die Erkundung der Himmelswege und der reichen kulturellen Umgebung hat das Landesamt jetzt vier „Entdeckerkarten“ (www.landesmuseum-vorgeschichte.de/digitale-welt-der-archaeologie.html) herausgegeben, die die jeweiligen vorgeschichtlichen Sehenswürdigkeiten erklären, aber auch auf interessante Orte in der Nachbarschaft hinweisen.

— Weitere Informationen: www.himmelswege.de
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Frühes Dezimalsystem?

Der Sensationsfund aus dem bayerischen Oberding: 82 Kilogramm Kupfer deuten auf Normen und Werte in der frühen Bronzezeit Europas

Es war ein gewichtiger, wissenschaftlicher „Schatz“, der 2015 bei bauvorgreifenden Ausgrabungen im oberbayerischen Oberding völlig unerwartet entdeckt und durch eine Grabungsfirma „gehoben“ wurde: ein frühbronzezeitlicher Verwahrfund bestehend aus 796 spangenförmigen Kupferbarren mit einem Gesamtgewicht von über 82 Kilogramm. Durch das Erdinger Moos getrennt, wurde das Depot um 1700 v. Chr. in Sichtweite der frühbronzezeitlichen Befestigung auf dem Domberg von Freising am Rand des Moors niedergelegt. Bis zu 1,30 Meter tief wurden die Barren in einer seitlichen, höhlenartigen Nische am Rand einer zeitgleichen Abfallgrube vergraben – fein säuberlich zu Bündeln verschnürt und eng übereinandergestapelt. Um seine akribische Ausgrabung zu ermöglichen, wurde der Fund in zwei Erdblöcken geborgen und in die Restaurierungswerkstätten des Bayerischen Landesamts für Denkmalpflege nach München gebracht.

Eine Computertomographie des Erdblocks zeigte, dass es sich um einen Sensationsfund handelte: den größten jemals entdeckten Spangenbarrenhort der frühen Bronzezeit. Nachdem der Fund durch die Stadt Erding für das Museum Erding erworben werden konnte, stand seiner Freilegung unter bodenkundlich-geoarchäologischer Begleitung nichts mehr im Weg. Die wissenschaftliche Auswertung liegt seither in den Händen des Lehrstuhls für Vor- und Frühgeschichtliche Archäologie der Ludwig-Maximilians-Universität München. Seit 2017 wird Europas umfangreichster Spangenbarrenhort im Museum Erding gezeigt – für die Landesausstellung in Halle/Saale wurden 50 Barren als Leihgaben zur Verfügung gestellt.

Nahezu alle Spangenbarren wurden zu handlichen Zehnerbündeln geschnürt

Sind allein Umfang und Gesamtgewicht des „Kupferschatzes“ beeindruckend, so konnten dank hochprofessioneller Dokumentationstechnik unter Laborbedingungen im Zug der Freilegung und durch Materialanalysen wichtige Details dokumentiert werden. Die 796 langestreckten, nur an den Enden gekrümmten Spangenbarren wurden in einer offenen Form gegossen und gussroh belassen. Das verwendete Kupfer stammt von unterschiedlichen Lagerstätten: Knapp die Hälfte der Barren kann aufgrund von Bleiisotopenanalysen dem bronzezeitlichen Bergbaurevier vom Mitterberg im Salzburger Land zugewiesen werden, die restlichen Barren sind aus einem sogenannten Fahlerzkupfer gefertigt, einer Kupfersorte, die wohl mehrheitlich aus dem slowakischen Erzgebirge stammt, aber auch im Nordtiroler Inntal vorkommt.

Reste von Baumbast sowie computertomographische Aufnahmen von der Anordnung der Barren im Inneren der Blockbergungen belegen, dass nahezu alle Spangenbarren zu handlichen Zehnerbündeln geschnürt und in acht Gruppen in der Nische abgelegt worden waren. Vier Bündelpackungen umfassen je zehn Zehnerbündel, also jeweils exakt 100 Barren. Eine weitere Gruppe enthielt acht Zehnerbündel. Bemerkenswert ist, dass Barren beider Kupfersorten in sämtlichen Zehnerbündeln unterschiedlich gemischt vorkommen. Bei einer Varianz von 76,1g bis zu 161,1g dominieren Gewichte bzw. 90 und 99 g bzw. zwischen 100 und 109 g.

Offensichtlich achtete man darauf, Barren mit ähnlichem Gewicht von 100 g, d.h. von plus/minus 10 bis 20 g sowie mit ähnlichen Maßen von 30 cm plus/minus 2 bis 4 Zentimeter herzustellen. Diese nach einer vorgegebenen Norm angefertigten Standardformen könnten innerhalb des Gütertransfers rum um die Alpen als eine Art prämonetäres Zahlungsmittel bzw. Gegenwert bei Tauschgeschäften gedient haben.
Spangenbarrenhort aus Oberding: Rekonstruktion der drei nachgewiesenen Schnürungsvarianten der Zehnerbündel, die jeweils etwa ein Kilogramm wiegen.
Spangenbarrenhort aus Oberding: Rekonstruktion der drei nachgewiesenen Schnürungsvarianten der Zehnerbündel, die jeweils etwa ein Kilogramm wiegen.
Bemerkenswert ist zudem, dass scheinbar nicht nur die einzelnen Barren, sondern auch das Gesamtgewicht der Zehnerbündel eine gewisse Rolle spielten. Teilweise wurden leichtere und schwerere Barren zusammengeschnürt, um so ungefähr ein Kilogramm pro Zehnerbündel zu erzielen. Der Oberdinger Hort ist somit einer der frühesten Nachweise für die Anwendung des Dezimalsystems, der den gezielten Umgang mit der Zahl Zehn und deren Vielfachem belegt.

Der Hort wurde in einer sich wandelnden Zeit vergraben. Nach 1700 v. Chr., am Ende der Frühbronzezeit veränderten sich die wirtschaftlichen Beziehungen der Menschen in Süddeutschland und darüber hinaus. Das Mitterberger Erzrevier, der mittlere Donauraum und das Karpatenbecken wurden zu wichtigen Kontaktregionen; das Nordtiroler Inntal und seine Kupferlagerstätten verloren an Bedeutung. Mit den neuen Kontakten gelangten auch wichtige kulturelle Neuerungen in das südliche Mitteleuropa.

Der Hort von Oberding gehört zu den letzten Zeugnissen einer frühbronzezeitlichen Tradition, Wertäquivalente in Form von Kupferbarren zu verbergen. Das in Oberding nachweisbare Dezimalsystem hat den Zeitenwandel zur Mittelbronzezeit scheinbar nicht überdauert beziehungsweise fehlen uns bislang Hinweise, die dies belegen. Carola Metzner-Nebelsick

— Die Autorin ist Professor für Vor- und Frühgeschichtliche Archäologie. Der Text entstand unter Mitarbeit von Sabrina Kutscher und Harald Krause.
Fotos: © Arche Nebra, Juraj Lipták; © LDA Sachsen-Anhalt, Juraj Lipták, Drohnenfoto Jan Dietzsch; BLfD, Jörg Stolz 2017
Erschienen im Tagesspiegel am 04.06.2021