Nachhaltigkeit 2021

Brennende Frage

Die Klimaneutralität hat in der Marketingwelt Anklang gefunden. Doch die Strategie hat Haken – und manche Firma eine Klage am Hals

Von Alicia Prager

Konsumieren ohne Fußabdruck – das ist heute kaum möglich. Doch immer mehr Firmen bieten klimaneutrale Produkte an. Damit sollen die Klimaschäden, die wir verursachen, zumindest minimiert werden. Eines dieser Unternehmen ist Aldi Süd. Es sei der „erste Lebensmitteleinzelhändler in Deutschland, der klimaneutral handelt“, heißt es auf seiner Webseite.

Dazu setzt Aldi Süd auf Energiesparen, nachhaltige Kälteanlagen und testet den LKW-Transport mit alternativen Antrieben. Außerdem produziert der Discounter mithilfe von Fotovoltaikanlagen auf den Dächern von über 1 320 Filialen Ökostrom. Jene Emissionen, die sich durch diese Schritte nicht vermeiden lassen, kompensiert er mit der Förderung von Klimaschutzprojekten in Ghana, Indien, Brasilien und auf den Philippinen.

Selbst Mineralölkonzerne bieten grüne Produkte an

So vielversprechend das für umweltbewusste Ohren klingt – Aldi Süd hat jetzt eine Unterlassungsklage am Hals. Die Werbung mit dem Begriff „klimaneutral“ sei irreführend, beanstandet die Wettbewerbszentrale. Es werde „der Eindruck erweckt, dass die Klimaneutralität zu hundert Prozent durch emissionsvermeidende beziehungsweise emissionsreduzierende Maßnahmen erreicht wird.“ Dabei stelle die Klimaneutralität in den beanstandeten Fällen nur ein rechnerisches Ergebnis dar, das durch den Kauf von CO2-Ausgleichszertifikaten erreicht werde, schreibt der Verein.

Neben Aldi Süd klagt die Wettbewerbszentrale gegen sechs weitere Unternehmen. „Auch wenn die Kompensation der Restemissionen bis zur vollständigen Umstellung der Prozesse zur Vermeidung von Emissionen zu begrüßen ist, muss darauf klar hingewiesen werden“, erklärt Tudor Vlah, der zuständige Referent für umweltbezogene Werbung. Das sei sowohl im Interesse von Unternehmen, die sich bei der Dekarbonisierung anstrengen, als auch im Interesse von Kund:innen, die informierte Kaufentscheidungen treffen wollen.

Die Klimaneutralität – ursprünglich als Zielsetzung für Staaten formuliert – hat in der Marketingwelt Anklang gefunden. Das geht mittlerweile so weit, dass selbst Mineralölkonzerne klimaneutrale Produkte anbieten. Bei Shell, zum Beispiel, kann man heute bereits klimaneutral tanken. Zumindest am Papier. 1,1 Cent pro Liter Benzin- oder Dieselkraftstoff werden aufgeschlagen und im Gegenzug in Waldprojekte weltweit investiert, die als Ausgleich für die anderswo verursachten Emissionen gerechnet werden.

„Die freiwilligen CO2-Märkte sind wie der wilde Westen“

Die Strategie hat jedoch einige Haken. „Die Kapazitäten heutiger CO2-Senken sind begrenzt und wir brauchen sie für die Kompensation von Emissionen, für die es keine alternativen Technologien gibt“, erklärt Karen Pittel, Direktorin des ifo Centers für Energie, Klima und Ressourcen. Außerdem ist sie Co-Vorsitzende des Wissenschaftlichen Beirates der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU), welcher vor Kurzem ein Politikpapier mit dem Titel „Über Klimaneutralität hinausdenken“ veröffentlicht hat. Darin argumentieren die Wissenschaftler:innen, dass bereits heute für die Zeit nach der Erreichung der Klimaneutralität geplant werden müsse. Die Klimaneutralität reiche nämlich nicht aus, um die Pariser Klimaziele zu erfüllen, erklärt Pittel. Damit sich die Erde nicht um mehr als 1,5 Grad erhitzt, muss Kohlenstoff zusätzlich aus der Atmosphäre geholt werden. „Die Botschaft, dass Klimaneutralität nur ein Zwischenziel ist, scheint in der Politik noch nicht so richtig angekommen zu sein“, sagt sie.

Daher müsse der Fokus heute darauf liegen, alle nötigen Hebel zu ziehen, um Emissionen zu verhindern. „Mit dem Kompensationsmarkt besteht aber das Risiko, dass dieser Prozess verlangsamt wird und der Druck zur Entwicklung grüner Technologien sinkt“, argumentiert Pittel. Etwa, wenn die Ausgleichsoption wirtschaftlich günstiger ist als die eigentliche Reduktion.

Dabei kann in vielen Fällen nicht garantiert werden, dass die Emissionen dauerhaft gebunden werden. Das gilt vor allem für Waldprojekte. Brennt der Wald ab, oder stirbt er aufgrund des Klimawandels, setzt er das gebundene CO2 wieder frei. Das CO2, das ursprünglich damit ausgeglichen wurde, zum Beispiel jenes an der „klimaneutralen Tankstelle“, befindet sich dann trotzdem weiterhin in der Atmosphäre.
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Der Kompensationshandel, der hinter all dem steht, ist momentan völlig unreguliert. „Die freiwilligen CO2-Märkte sind wie der wilde Westen“, so formuliert es Jimmy Dögerl von der Beratungsfirma Forefront Advisers. Das könnte sich aber bald ändern. Auf der großen UN-Klimakonferenz im November soll der Bereich durchstrukturiert werden. Dann könnten sowohl Unternehmen als auch Staaten mit auf einem globalen Markt mit Zertifikaten für den Emissionsausgleich handeln. Der heute fragmentierte Markt auf dem Firmen wie Aldi Süd und Shell unterwegs sind, würde sich damit drastisch verändern.

Doch bevor es soweit ist, stehen noch einige Hürden im Weg. Etwa die Frage, wie Doppelzählungen von CO2-Senken vermieden werden können. Dazu braucht es eine Regelung, wer sich die Emissionsreduzierung anrechnen darf – das Projektland oder der Projektfinanzierer? Ein weiterer Streitpunkt auf der Klimakonferenz wird sein, was mit bereits existierenden Zertifikaten passieren soll. Länder wie Brasilien und Indien stemmen sich gegen die Löschung von Zertifikaten aus der Zeit vor 2020. Andere wollen diese Zertifikate nicht anerkennen, weil sie unter laschen Bedingungen ausgestellt wurden.
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Doch die schiere Größe des Marktes könnte zum Durchbruch verhelfen. Der Star-Investmentbanker und ehemalige Gouverneur der englischen Zentralbank, Mark Carney, spricht bereits von einem jährlichen Volumen von bis zu 100 Milliarden US-Dollar, die in Klimaschutzprojekte fließen sollen. Doch dazu brauche es eine glaubwürdige Verifizierung und Greenwashing müsse ausgeschlossen werden, so Carney. Auf den Klimaverhandlungen in Glasgow, werden die Staaten versuchen, sich auf die Details eines solchen Marktes zu einigen.

Aber kann eine neue Struktur die Kritik am Label „klimaneutral“ ausräumen? Nur bedingt, antwortet Karen Pittel vom WBGU. „Natürlich ist es wichtig, dass Konsument:innen darauf achten, nachhaltigere Produkte zu kaufen. Das treibt die Unternehmen an“, sagt sie. Doch das heiße nicht, dass Produkte oder Dienstleistungen als etwas verkauft werden sollten, dass sie womöglich nicht erfüllen können. Deshalb plädiere sie für eindeutigere Kennzeichnungen, zum Beispiel mit dem Label „CO2-kompensiert“ oder „mit erneuerbaren Energien erzeugt“.

Freiwillige CO2-Kompensationen können sinnvoll sein, wenn damit zusätzliche Klimaschutzprojekte finanziert werden, so Pittel weiter. „Aber mit Klimaneutralität haben sie in einigen Fällen nur am Papier zu tun“, sagt sie. Emissionen lassen sich eben nicht wegrechnen.
Foto: Imago/NurPhoto
Erschienen im Tagesspiegel am 17.09.2021