Nachhaltige Entwicklung

Noch darf man hoffen

Skeptiker hegen aktuell ernste Zweifel an den Erfolgsaussichten der Agenda 2030. Was sie dabei übersehen

Von Christian Kroll

Es war ein bemerkenswerter Vorgang. Als hätten alle Staatenlenker der Welt für einen kurzen kollektiven Moment völlige Klarheit über die wichtigsten Herausforderungen der Erde und seiner Bewohner erlangt. Und dann haben sie auch noch entschieden, diese Probleme mit einem konkreten Plan anzugehen: Vor fünf Jahren haben sich 193 Regierungschefs sämtlicher UN-Mitgliedsstaaten auf die Agenda 2030 mit 17 sogenannten Nachhaltigkeitszielen und 169 Unterzielen (Sustainable Development Goals, kurz SDGs) geeinigt.

Heute, in Zeiten des zwischenstaatlichen Säbelrasselns, nicht nur in den USA und China, sowie des vielerorts drohenden Erstarkens eines kleingeistigen Nationalismus, erscheint das, was da am 25. September 2015 an der First Avenue in New York passierte, erst recht wie ein wahres Wunder multilateraler Erkenntnis. Nicht nur das Versprechen, die globalen Interessen über die nationalen zu stellen, mutete historisch an. Auch fanden zwei Diskurse zueinander, die in der Vergangenheit oft als unvereinbar galten: Armutsreduzierung und Nachhaltigkeit. Klar wurde: Für ein gutes Leben aller Menschen innerhalb planetarer Belastbarkeitsgrenzen wird es unumgänglich sein, Wirtschaftsweisen zu entwickeln, die ressourcenschonend und effektiv die extreme Armut besiegen. Dabei sind Industrieländer genauso in der Pflicht wie die Entwicklungs- und Schwellenländer.

Nun liegt mittlerweile ein Drittel der Laufzeit hinter uns, und die messbaren Fortschritte fallen noch weit hinter den Versprechungen zurück. So kommen meine Co-Autoren und ich in unserem Sustainable Development Report 2020 zu dem Ergebnis, dass selbst in den noch am besten abschneidenden Ländern – diese sind vor allem in Skandinavien zu finden – viele Ziele weiterhin nicht erreicht werden, vom Rest Europas und anderen Weltregionen ganz zu schweigen. Zudem stößt gerade die Coronakrise die gesamte Weltwirtschaft in heftige Turbulenzen und droht die nachhaltige Entwicklung in noch weitere Ferne zu rücken. Wäre es nicht angebracht, den Zielkatalog anzupassen, die Ambitionen zurückzuschrauben oder gar komplett zu revidieren? Selbst im führenden wissenschaftlichen Fachblatt „Nature“ äußern die Herausgeber im Juli dieses Jahres ernste Zweifel, ob die Agenda 2030 angesichts der Coronakrise überhaupt noch erreichbar sei. Dabei werden von den Skeptikern viele wichtige Punkte übersehen.
Christian Kroll
Christian Kroll
Erstens, die Ziele orientieren sich an den objektiven Notwendigkeiten und sind aus der Wissenschaft abgeleitet. Sie zu ändern, käme einer naiven Selbsttäuschung gleich: Als ob man in der Wüste auf einen Thermometer „20 Grad“ kritzeln würde in der Hoffnung, die Umgebung werde damit angenehm temperiert.

Zweitens vermischen Kritiker häufig die technische und finanzielle Erreichbarkeit der globalen Nachhaltigkeitsziele und den politischen Willen zu deren Umsetzung. Es mangelt nicht an Ersterem, wie zahlreiche Studien belegen, sondern an Letzterem. Dies zu ändern liegt vor allem in der Hand der Zivilgesellschaft, denn die UN-Agenda ist eine Ansammlung nichtbindender Ziele, deren Verfehlen keine Sanktionen nach sich zieht – außer an der Wahlurne!

Der viel beklagte Aufstieg von Populisten und Nationalisten sollte drittens bei den etablierten Parteien nicht zu einem Unterbietungswettbewerb bezüglich der Abkehr von multilateralen Übereinkommen führen. Im Gegenteil sollten sie jetzt erst recht globale Bündnisse eingehen und die SDGs enthusiastisch umsetzen. Solche Maßnahmen sind nicht nur moralisch geboten, sie zahlen sich auch bei Wahlen aus. Das zeigt unsere Vergleichsstudie zu Populismus und Nachhaltigkeit, die in diesem Jahr im Fachblatt „Environmental Economics“ erschienen ist: In Ländern mit Fortschritten bei den SDGs mussten die Populisten im Schnitt mehrere Prozentpunkte einbüßen.

Die Pessimisten unterschätzen viertens die Möglichkeiten des Fortschritts bei vergleichbaren globalen Rahmenwerken. Die Vorgänger der SDGs, die Millenniumsziele, haben gezeigt, dass es möglich ist, die extreme Armut zu halbieren. Wie viele der Unterzeichner hätten darauf im Jahr 2000 ernsthaft gewettet? Heute spielen uns die technischen Entwicklungen der vergangenen Jahre in die Hände. Und wir haben eine Jugend, die für solche Themen sensibler ist und entschlossener kämpft als alle Generationen vor ihr.

Fünftens haben die SDGs bereits im Jahr 2015 vor genau den Gefahren gewarnt, die uns nun mit dem Coronavirus scheinbar kalt erwischt haben. Das Ziel Nummer drei – Gesundheit und Wohlergehen für alle – fordert die Unterzeichnerstaaten auf, „die Kapazitäten aller Länder, insbesondere der Entwicklungsländer, in den Bereichen Frühwarnung, Risikominderung und Management nationaler und globaler Gesundheitsrisiken“ zu stärken. Es ist offensichtlich, dass eine tatkräftige Beherzigung dieser Aufforderung den Ausbruch von Covid-19 und seine Auswirkungen rund um den Globus hätte minimieren können – mit spürbaren Folgen für Milliarden von Menschen.

Engagierte Bürger sind heute besonders gefragt

Die Coronakrise gibt uns sechstens – und dies ist aktuell vielleicht die entscheidende Erkenntnis – die Möglichkeit, ja die Verpflichtung, aus eingefahrenen Bahnen herauszubrechen und Althergebrachtes zu überdenken. Die Krankheit und ihre wirtschaftlichen wie sozialen Folgen sind ohne Zweifel die größte weltumspannende Tragödie, die unsere Generation gesehen hat. Gerade deshalb fordert sie uns auf, jetzt die richtigen Lehren zu ziehen und nicht mit dem Status quo ante bis ins Jahr 2030 zu dümpeln.

Die Pandemie hat uns lebhaft vor Augen geführt, dass es eben nicht egal ist, was in anderen Weltregionen passiert. Während sich Multilateralisten seit Jahrzehnten oft den Mund fusselig reden mussten, um die Bedeutung internationaler Kooperation und einer Aufstockung der Entwicklungshilfebudgets auf die versprochenen 0,7 Prozent vom Bruttoinlandsprodukt zu fordern, ist der Beweis für die globale Dimension vermeintlich lokaler Probleme nun allzu anschaulich erbracht. Das Weltwirtschaftsforum spricht gar von einem „Great Reset“, einem großen Neustart, der jetzt nötig und machbar wäre.

Viele gordische Knoten wurden in den vergangenen Monaten zerschlagen. Ein Beispiel ist das Homeoffice, das nicht nur für bessere Vereinbarkeit von Arbeit und Privatleben sorgt, sondern signifikant die Ballungsräume entlastet und Umwelt schont, weil Pendelwege vermieden werden. Geschäftsmodelle kommen zukünftig nicht mehr umhin, sich an die neue Wirklichkeit anzupassen. Etliche alte Gewohnheiten ließen sich bereits überwinden. Was zuvor noch als unmöglich abgestempelt wurde, funktioniert plötzlich. Der Wandel zu einer agileren, digitaleren, nachhaltigeren Wirtschafts- und Lebensweise wird dadurch Realität.

Wir müssen diese nachhaltigen Innovationen noch weiter verbessern und mit in die Zeit nach der Impfstoffentwicklung nehmen. Darin liegt die große Chance dieser Krise. Die Agenda 2030 ist heute noch bedeutsamer, dringlicher und – wenn wir es wollen – realistischer als am Tag ihrer Unterzeichnung.

— Der Autor ist Experte für nachhaltige Entwicklung bei der Bertelsmann Stiftung und wissenschaftlicher Co-Direktor des SDG-Index. Der von ihm unter der Leitung von Professor Jeffrey Sachs von der Columbia University mitverfasste Sustainable Development Report erschien im Juni 2020.

Wie faire Globalisierung gelingt

Der Welthandel braucht dringend soziale Regeln
Auf meinen Reisen sehe ich viel Elend und Not. Ich sehe Kinder, die für unseren Kaffee die Bohnen pflücken, für unsere Smartphones Kobalt aus Steinen kratzen oder in den giftigen Dämpfen der Zündholzproduktion arbeiten.
„Zukunft wird, was wir heute gestalten“
Gerd Müller ist seit 2013 Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Er kündigte vor Kurzem an, dass er sich 2021 aus der Bundespolitik zurückziehen will.
Gerd Müller ist seit 2013 Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Er kündigte vor Kurzem an, dass er sich 2021 aus der Bundespolitik zurückziehen will.
Sie schuften, statt zur Schule zu gehen. Ganze Landstriche sind durch die Produktion von Soja oder Palmöl verödet. Familien hungern, weil ihr Vieh infolge von Dürre oder Überflutung verendet ist. Die Coronakrise verstärkt noch die Not.

Viel zu lange akzeptieren wir schon die Ausbeutung von Mensch und Natur und tolerieren Kinderarbeit. Eine gerechte Globalisierung ist möglich. Dafür braucht es soziale und ökologische Standards im globalen Handel. Wir müssen schneller vorankommen beim Klimaschutz und ärmeren Ländern helfen, sich zu wappnen. Und jede und jeder von uns sollte nur kaufen, was frei ist von Kinderarbeit und Umweltschäden.

Eine Welt ohne Ausbeutung, ohne Armut und Hunger ist möglich – eine Welt, in der alle Menschen sicher und in Würde leben können. Das Human Rights Film Festival und die Konferenz „10 Years to Reach the Sustainable Development Goals“ in Berlin zeigen: Wir alle müssen dazu beitragen.

Unsere Richtlinie sind die 17 Ziele der Vereinten Nationen für nachhaltige Entwicklung. Alle Staaten haben unterzeichnet. Die Umsetzung schaffen wir nur gemeinsam. Gerd Müller
                         
Fotos: Getty Images/iStockphoto; privat; J. Schmitz/photothek.net
Erschienen im Tagesspiegel am 22.09.2020